Italienfahrt - Ernst Haeckel

Messina, 8. 11. 1859

Brief Nr. 52

. . . Ich möchte wohl wissen, wie meine italienische Reise, die doch schon lange vor unserer Verlobung beschlossen war, wohl ausgefallen sein würde, wenn wir uns nicht gefunden hätten! Ich bin überzeugt, daß ich nicht die Hälfte der Früchte geerntet hätte, die ich jetzt mit heimbringe; sehe ich doch jetzt alles für Dich mit an, und im Gedanken an Dich genieße ich alle Herrlichkeit der Natur und Kunst doppelt, nehme alles doppelt warm und frisch in mich auf. Ich meine, Du müßtest es meinen Briefen wohl angefühlt haben, wie Du überall darin lebst und webst, wie der feste Gedanke an dich mir alle Erlebnisse poetisch verklärt hat. Und wie fühle ich es jetzt wieder bei der Arbeit, wie Du, bester Schutzengel, mir beständig hilfreich und ermutigend zur Seite stehst und die Kräfte neu stärkst, die unter dem Gewichte der gewaltigen, ja fast übermächtigen Aufgabe unterliegen wollen. So kam mir Dein prächtiger frischer Brief grade heute besonders als ein rechter freuer Freund und Bundesgenosse. Der alte Kleinmut und die hoffnungslose Verzagtheit, welche mich früher zu allen größeren Arbeiten so unfähig machten, wollten auch heute ganz wieder die Oberhand gewinnen, trotzdem Du sie nun schon so weit, weit zurückgetrieben hattest. Von früh an saß ich heut vor einer solchen Fülle des herrlichsten Materials, einer wahren Mustersammlugn der schönsten und merkwürdigsten Seetierchen aller Art (darunter auch ein Annelidchen, Alciope, das reizendste Geschöpf, das Du Dir unter den Seewürmchen denken kannst, ganz wie von reinem Kristall!), daß ich gar nicht wußte, wo und was anfangen. Ich nahm dies vor, nahm jenes vor, besah es, stellte es wieder weg, bewunderte einen Schatz nach dem andern unter dem Mikroskop: als ich aber nun recht anfangen wollte, daran zu arbeiten und mich zu vertiefen, sank mir der Mut so, daß meine anfängliche große Freude über die herrlichen Naturwunder in das grade Gegenteil umschlug. Bald fühlte ich nur zu lebhaft, wie ungenügend alles menschliche Streben, und ganz besonders meine schwache Kraft ist, um der Erkenntnis dieser großen Wunder auch nur einigermaßen Meister zu werden, wie weit alle unsere Resultate hinter dem vorgesteckten Ziel zurückbleiben und wie schließlich das Erforschte im besten Fall doch nur jämmerlich Stümperwerk ist und in den meisten Fällen mehr Irrtum als Wahrheit enthält. Dazu kam nun noch das Bewußtsein meiner speziellen Ungenügendheit, der großen Lückenhaftigkeit meiner Kenntnisse und der Unfähigkeit, solch große Arbeit mit viel Erfolg anzugreifen. So wurde ich zuletzt ganz traurig und verlor mich in einer langen Reihe spekulativer Gedanken, die natürlich wesentlich negativer Natur waren und zuletzt mit völligem Nihilismus endigten.

Ich trat vom Mikroskop an das Fenster und sah den leichten, luftigen Wolken sehnsüchtig nach, die über die wundervoll beleuchteten Berge Kalabriens dem lieben Norden zueilten. Es fuhr grade ein stattlicher englischer Dampfer aus dem Hafen direkt nach Norden, und wie gern wäre ich hinabgesprungen, um mit ihm fortzueilen. Die Heimat- und Liebenssehnsucht packte mich doppelt gewaltig und ließ mir meine Arbeiten hier nur noch vergeblicher und unnützer erscheinen. Da kam denn grade im rechten Moment als ein treuer Trost und Hoffnungsbote Dein lieber, lieber Brief geflogen, der den Sturm der aufgeregten Gefühle beschwichtigte, mit den lieben Hoffnungsbildern der glücklichsten Zukunft mir wieder Mut und Vertrauen einhauchte, und nachdem ich ihn dreimal mit immer wachsender Freude gelesen, mich so wei erfrischt hatte, daß ich die unterbrochene Arbeit in Gedanken an meine mutige, starke Änni wieder aufnahm, mich munter in eines der schwierigsten Tierchen hineinguckte und dann auch noch schließlich am Ende der Tagesarbeit durch einen recht hübschen, anatomischen Fund belehrt wurde. So, liebstes, bestes Mädchen, bist Du auch bei der Arbeit mein guter Genius, und gar oft muß Dein reizendes Abbild von seinem Standplätzchen auf dem Arbeitstisch hinüberwandern, um die müden Augen seines Herrn nue zu stärken. Viel mehr, als durch liebes, gutes Beispiel wirkst Du noch zum Gelingen der Arbeit mit durch die Gedanken an die hohe Bedeutung, welche grade die jetzt angegriffenen Arbeiten, von denen ich ja zunächst meine Erfolge und meine Stellung in der Naturforscherwelt zu hoffen habe, für das glückliche Gelingen unserer süßen, rosigen Zukunftshoffnungen haben. Der Gedanke, "das tust Du mit für Deine Änni, und je rascher du es vollendest, desto früher wirst du mit ihr deine Hütte bauen können!" ist ein gar mächtiger Sporn, der schon oft die sinkenden Hände und Augenlider wieder gehoben, ermuntert und zu frischem, neuen Antrieb gekräftigt hat. Kommt also wirklich etwas Hübsches zustande aus diesen Untersuchungen, so hast Du, liebstes Herz, den besten und reichsten Anteil daran.

Ganz besonders hat mich auch in Deinem heutigen Briefe gefreut, mein liebes, treues Herz, was Du über mein Verhältnis zur Wissenschaft und Kunst als Lebensberuf und zu dem Plan, Landschaftsmaler zu werden, sagst. Der letzte war in der Tat nie so ganz ernstlich gemeint, daß ich an ein Umsatteln hätte denken sollen, zumal dazu doch das Talent nicht aussreichen würde. Nur meine ungemeine Lust und Liebe zur Sache liekß mich dieses Luftschloß bauen. Hätte aber das künstlerische Treiben Brotstudium werden sollen, so wäre ich dadurch gewiß nciht glücklich geworden, da in der Kunst der Gegensatz zwischen idealem Streben und realem Leben noch viel größer ist als in der Wissenschaft. Die schönste Beschäftigung für alle Mußestunden soll aber das dilettierenden Landschaftern in Öl und Aquarell mein ganzes Leben bleiben und soll uns beiden glücklichen Leutchen noch recht viel schöne Stunden bringen. Gewiß zitierst Du mir mit vollem Rechte das Gedicht "Ernst ist das Leben, heiter die Kunst". Ich habe die Wahrheit desselben so recht täglich während meiner Reise mit Allmers durchgefühlt. Das Schönere, Reizendere ist gewiß die Kunst, weil sie ja die Natur im idealen Kleide unserer vergeistigten Stimmung zeigt. Das Höhere, weil Wahrere, bleibt aber doch die Wissenschaft. Beide zusammen aber, das Wahre und das Schöne, geben in ihrer Vereinigung das Gute, welches sich im realen leben offenbaren muß! Das, mein liebstes Herz, wollen wir auch, denk´ ich, für unser künftiges gemeinsames Leben festhalten und, indem wir das Wahre in wissenschaftlichen Arbeiten und das Schöne im künstlerischen Genießen harmonisch zu dem Guten in unserem ganzen Gesamtleben zu vereinigen suchen, uns hier schon auf Erden unser kleines Paradies schaffen! Nicht wahr, mein guter Engel, Du hilfst mir dabei?! -


Brief 51 ..................................................Brief 53




zurück zum Inhaltsverzeichnis



Diese Seite ist Teil von Kurt Stübers online library.
Copyright 1999 Kurt Stüber.
Diese Seite wurde erstellt am 3. August 1999