Italienfahrt - Ernst Haeckel

?. ?. 1859

Brief Nr. 34

(Aus dem Zirkularbrief an die Freunde.)

Die Exkursionen, die wir Anfang Juli in Neapels Umgebungen machten, waren äußerst lohnend. Camaldoli, der sogenannte "schönste Punkt der bewohnten Erde"! Unvergleichlicher Blick auf die Stadt mit ihren Kastellen und Häfen, auf den Vesuv und die Peninsola, auf die prächtigen beiden Nachbargolfe von Neapel und Bajae, durch die langgestreckte, garten- und villebedeckte Hügelkette des Posilippo geschieden. Nach Puzzuoli mit seinem Serapistempel und seinem Amphitheater, Bajae und Cumae mit ihren altrömischen Ruinen, nach dem merkwürdigen, ausgebrannten Krater der Solfatara usw. führten uns andere Exkursionen, alle reich an Ausbeute für Skizzenbuch und Pflanzenpresse.

Die zweite Hälfte des Juli benutzten wir zu einer größeren 14tägigen Exkursion nach der Penisola, der langgestreckten Halbinsel, welche den Golf von Neapel von Süden umfaßt und welche die herrlichen Orangengärten von Sorrent, Caltellamare trägt. Wir begannen mit dem Vesuv, den wir in der Nacht vom 18. zum 19. Juli erstiegen. Ich war schon vorher zweimal oben gewesen und beidemal hatte mich die entzückende Aussicht vom Gipfel, die merkwürdige Natur, die Vegetation und geographische Formation des seltsamen Lavaberges so gereizt, besonders aber das wunderbare Schauspiel des fließenden, rotglühenden Lavastromes so entzückt, daß ich den Beschluß gefaßt hatte, um all das recht gründlich zu genießen, einmal eine Nacht auf dem Gipfel des Berges zuzubringen. Der Plan war sehr hübsch angelegt, wurde aber infolge verschiedener unglücklicher Zufälle so umgestaltet, daß die ganze Expedition nicht nur gänzlich mißglückte, sondern uns auch beinahe das Leben gekostet hätte. Es war dies das einzige Mal auf der ganzen Reise, daß ich wirklich in ernster, zu zwar augenblicklich drohender Lebensgefahr schwebte. Verschiedener anderer kleiner Mißgeschicke nicht zu gedenken, war der schlimmste Umstand der, daß mein lieber Gefährte unterwegs erkrankte, so daß wir bei Sonnenuntergang, als wir eigentlich schon auf dem Gipfel sein sollten, erst am Fuße des Aschenkegels, über der zweiten (mittleren) Zone uns befanden. Dies obere Dritteil des Berges bietet der Ersteigung außerordentliche Schwierigkeiten, die man indes nur durch eigene Anschauung vollkommen würdigen lernen kann. Die dichte Lavawand des Vesuv ist nämlich rings um diesen obersten, sehr steilen Kegel mit einer mächtigen Aschenschicht bedeckt, in welcher eine Menge größerer und kleinerer Lavablöcke locker zerstreut liegen. Die Asche ist so fein, locker und trocken, daß man bei je drei Schritten aufwärts mindestens zwei wieder hinunterrutscht und die Ersteigung der sehr kurzen letzten Strecke, sehr mühsam und gefährlich, erfordert daher selbst an der gewöhnlich benutzen, bequemsten Stelle mindestens immer eine halbe Stunde. Um nun der hervorbrechenden Nacht zuvorzukommen, ging ich nicht bis zu letzterer hin, sondern zog es vor, an einer zwar sehr steilen, aber mit fester Lave belegten Stelle emporzuklettern, die ich auf der zweiten Besteigung kennengelernt hatte. Anfangs ging es noch ganz gut; aber bei der einbrechenden absoluten Dunkelheit hatte ich die ohnehin schon schwer zu erkennende Spur in dem schwarzen, einförmigen Gestein bald ganz verloren, und nun befanden wir uns in einer Lage, deren Schrecken sich bald so steigerten, daß sie selbst die Empfindungen noch übertrafen, die mich einst, als mich mein Führer auf dem Ötztaler Hochjochferner aus einer Gletscherspalte geholt hatte, überwältigten. Allein, ohne Führer, in der höchst unwirtlichen Lavawüste, deren Felsen hier so steil abstürzten, daß wir weder gehen noch stehen noch liegen konnten, sondern halb kriechend auf allen vieren uns aufwärts arbeiten mußten, ohne Spur eines Weges, zwischen lockerem Felsgeröll mit so scharfen und harten Kanten, daß wir uns die Hände blutig ritzten, dazu der Boden so unzuverlässig und weich, daß wir nirgends recht festen Fuß fassen konnten. - Ich rutschte ein paarmal eine Strecke von 30-40 Fuß herab, wobei ich mich an Hand und Fuß arg verletzte und einen Teil des Gepäckes einbüßte - dazu durch die ewigen Anstrengungen bis zu Tode ermattet - es war in der Tat ein über alle Vorstellung schrecklicher Zustand. Diese verzweifelte Lage wurde doppelt schrecklich durch die Sorge um meinen Gefährten, den ich bei der vollkommenen Dunkelheit bald ganz verloren hatte. Ich rief ihm von Zeit zu Zeit zu, daß er mir nachkommen möchte, da es mir rein unmöglich war, zu ihm zurückzukehren, da jeder Schritt rückwärts mit offenbarer Lebensgefahr verbunden war. Ich mußte ihn also seinem Schicksal überlassen und mir allein, so gut ich konnte, fortzuhelfen suchen. Das Klettern wurde mir bald außerordentlich schwer, da die übermäßigen Anstrengungen und die Last des doppelten, schweren Gepäckes (ich trug auch das meines Freundes) mir das Emporarbeiten sehr erschwerten. Aber nicht einmal ausruhen konnte ich etwas, da nirgends ein sicherer Ort zum Sitzen war und die herabrollenden Lavablöcke mich immer wieder emporschreckten. Endlich, endlich nach 10 Uhr nachts gelangte ich nach ansäglichen Beschwerden doch noch glücklich auf dem Rande des Kraters an, war jedoch so über die Maßen ermattet und angestrengt, daß ich bewußtlos niederfiel und erst nach einiger Zeit mich wieder erholte. Ich schleppte mich nun mühsam noch bis zu einem natürlichen Ofen, einer der vielen Fumarolen, einer Lavahöhle, aus deren Spalten heiße Dämpfe hervorströmten. Hier war ich vor dem kalten Wind und den dichten Dämpfen der beiden Krateröffnungen ziemlich geschützt und verbrachte hier den Rest der Nacht, teils in unruhigem Schlaf, teils abwechselnd auf einen der nahen Kegel steigend und den Namen meines Freundes rufend. Endlich um 2 Uhr morgens erschien der sehnlichst Vermißte. Er hatte mehr Glück gehabt als ich und einen sicheren Lavafelsen gefunden, auf welchem hockend er gewartet hatte, bis um 11 Uhr der Mond aufgegangen war. Bei dessen hellem Lichte hatte er bald einen festen, dichten Lavastrom gefunden, auf dem er nun verhältnismaßig leicht sich bis zum Gipfel emporgearbeitet hatte. Aber auch er war so furchtbar mitgenommen, daß wir unsern Plan, den ganzen folgenden Tag mit Sammeln von Naturalien und Skizzieren beschäftigt auf dem Gipfel zu bleiben, aufgaben und bald nach Sonnenaufgang (der übrigens prächtig war) mühselig wieder herabkrochen, nachdem wir den Rest unseres Proviants und die Trümmer des Gepäcks den Zyklopen in den Kraterschlund hinabgeworfen hatten. Übrigens trat keine der gefürchteten Folgen der allzu großen Strapazen ein und so konnten wir nach einem Rasttag in Neapel unsere Reise nach der Penisola weiter fortsetzen.

Wir begannen mit Pompeji, in dessen wunderbaren Straßen und Gassen, Tempeln und Theatern, Palästen und Foren wir ein paar höchst glückliche und genußreiche Tage verlebten. Das ganze seltsame Wesen, an dem bald zwei Jahrtausende spurlos vorübergegangen sind, ist so eigentümlich, daß man nur durch eigene Erfahrung sich ein Bild von diesem historischen Märchen verschaffen kann.

Von dort gingen wir nach Nocera und von da über den hohen Gebirgsrücken des Mont Angelo, auf dem wir eine sehr interessante, reiche Flora fanden, nach der Südküste der Penisola hinüber, nach dem wundervollen Amalfi, das in seinen köstlichen Schluchten und Tälern alle Reize vereinigt, welche eine üppige, südliche Vegetation und eine nordische wasserreiche Gebirgsnatur sonst nur getrennt dem Wanderer bieten. Dazu kommt nun noch der malerische Reiz der merkwürdigen maurischen und normannischen Ruinen, mit denen viele Berge gekrönt sind, und als Hintergrund der herrlichen Landschaft der köstliche Golf von Salerno mit seinen weiten, schönen Buchten und dem tiefblauen, in südlichem Sonnenglanz schimmernden Meer. Auch diese Amalfi-Tage waren so reich an Ausbeute für unser Skizzenbuch und unsere Pflanzenpresse, daß ich sie fast der Ischia-Woche an die Seite stellen möchte. Von Amalfi gingen wir über Scaricatojo wieder nach der Nordküste der köstlichen Penisola hinüber nach dem berühmten Sorrent, das indes trotz seiner unvergleichlichen Orangengärten doch nicht unseren Erwartungen entsprach. Nach mehreren Streiftagen in dessen Umgebungen, die mit einer Exkursion nach Castellamare schlossen, kehrten wir am letzten Juli nach Neapel zurück, wo wir ganz unerwartet noch einen besonderen Genuß hatten, nämliche die herrliche englische große Flotte zu sehen, welche von hier nach Malta ging, außer sechs anderen prächtigen Linienschiffen noch der "Marlborough", das kolossale Admiralsschiff und das größte Linienschiff, das gegenwärtig überhaupt existiert, ein wahres Ungeheuer.

Den ganzen Monat August verlebte ich auf der Insel Capri, und wenn ich von irgendeinem Teile dieser Reise sagen kann, daß er mich in jeder Beziehung in höchstmöglichem Grade befriedigt und über alle Erwartungten hinaus beglückt hat, so ist es vor allem dieser herrliche Sommermonat auf Capri, der, je länger und je mehr ich an diese glücklichste Zeit zurückdenke, mir immer mehr wie ein goldenes Paradiesmärchen oder wie ein glücklicher, reicher Traum erscheint. Bin ich öfter zweifelhaft, welchem meiner Aufenthaltsorte in Italien ich vor allen anderen den unbedingten Vorzug geben soll, so gewinnt schließlich doch immer Capri über alle die Oberhand . . .


Brief 34 ..................................................Brief 36




zurück zum Inhaltsverzeichnis



Diese Seite ist Teil von Kurt Stübers online library.
Copyright 1999 Kurt Stüber.
Diese Seite wurde erstellt am 22. Juni 1999