Italienfahrt - Ernst Haeckel

Neapel, 1. 8. 1859

Brief Nr. 34

. . . Als wir in Sorrent am 26ten (an Deinem Namenstage, leibster Schatz, den wir abends in traulichem Kreise auf dem Dache unserer trefflichen Künstlerkneipe feierten), fanden wir daselbst einen sehr netten Norweger, einen Kaufmann Diedrich Voß aus Bergen, vor, der viele interessante Reisen, u. a. auch nach Südspanien, gemacht hatte, wovon er uns viel erzählte. Das gemeinsame Band unserer germanischen Stammesnatur machte uns rasch mit ihm bekannt und wir freuten uns sehr, in diesem Lande . . . die edlen, großen Gedanken der freien Germanenseele so schön ausgesprochen zu hören. Den Abend kamen dazu noch zwei Norweger, ein Dr. phil. Gjertsen aus Christiania und ein Architekt Holsöe, sehr nette und liebe Leute, mit denen ich am folgenden Morgen, während A. auf einen Tag nach Neapel ging, eine hübsche Gebirgstour rings um das Piano di Sorrento machte.

In S. Agatha, einem Dorf auf der Höhe unweit Deserto, trafen wir zufällig zwei nette Norwegerinnen, Künstlerinnen, die in diesem einsamen Bergdorf einige Wochen ihren Wohnsitz aufgeschlagen hatten, um charakteristische Porträtköpfe unter dem Landvolk zu sammeln. Auch mit diesen lieben Landsleuten aus dem treuen, fernen Norden, die natürlicdh nicht wenig überrascht waren, hier im fremden Süden in der schönen, heimischen Mittersprache angeredet zu werden, waren wir rasch bekannt und plauderten mit ihnen in demselben vertraulichen und herzlichen Ton, der hier alle germanischen Söhne des Nordens als nahe Verwandte und Söhne eines und desselben großen Völkerstammes mit innigem Bande umschlingt . . . Recht schön sprachen diese germanische Sympathie auch unsere beiden Norweger aus, mit denen wir in Sorrent herzliche, genußvolle Stunden verplauderten.

Auch ein paar andere, rechte liebe und nette Leute habe ich da kennengelernt, einen alten Dr. med. Steinheim, früher praktischer Arzt, aus Rom, der jetzt mit seiner alten, nicht minder liebenswürdigen und gescheuten Ehehälfte in Sorrent Villeggiatur hält. Unter den deutschen Künstlern in Rom steht dies alte, treffliche Paar, das sie recht treffend "Philemon und Baucis" nennen, in jeder Beziehung im größten Ansehen, und ich fand all das Liebe und Gute, das ich von ihnen gehört, durch die persönliche Bekanntschaft vollkommen bestätigt. Mit Allmers, der mich dort eingeführt, habe ich ein paar allerliebste, so recht deutsche, gemütliche Familienabende da verlebt, wie ich sie überall in Italien so schmerzlich vermißt habe. Der alte Doktor, eine prächtige, ehrwürdige Greisengestalt, die mich recht an unseren lieben Großvater erinnerte, treibt jetzt mit großem Eifer Philosophie und ist besonders im Aristoteles sehr bewandert. Er ließ sich mit dem lebhaftesten Interesse von mir die Ergebnisse unserer neuesten zootomischen und physiologischen Forschungen, die noch nicht bis Rom heruntergedrungen sind, erzählen. Die alte Doktorin nahm an dem Gespräch mit vielem Geist und mit einem liebevollen, milden Sinn teil, der durch seinen rein weiblichen und ich möchte sagen mütterlichen Ton etwas sehr Anziehendes hatte. Diese liebenswürdige Milde und das unparteiische Urteil freuten mich um so mehr, als ich durch Allmers nachher erfuhr, daß beide noch jetzt Juden (aus Altona) seien, was ihnen gewiß niemand ansieht. Am zweiten Abend trafen wir bei ihnen den dänischen Konsul Bertouch, auch einen recht netten Mann des Nordens. An diesem Abend las uns Allmers einen Teil aus seinem friesischen Epos: "Der Kreuzzug gegen die Städlinger" vor, in welchem er mit großem Glück und Talent versucht hat, das Plattdeutsche in das moderne Epos einzuführen . . .

Vor allem sollte ich nun wohl versuchen, Dir ein getreues Bild meines lieben, neuen Freundes Allmers zu entwerfen, der seit den ersten Tagen, wo ich ihn kennengelernt, mein beständiger Gefährte und lieber, treuer Genosse gewesen ist. Um aber alle seine trefflichen und liebenswürdigen Seiten zu schildern, müßte ich mehr Raum und Zeit haben, als ich ihm heute geben kann, und daher mußt Du Dich mit ein paar leichten Umrissen begnügen. Allmers ist vor allem ganz Dichter und sieht das ganze Leben mit all seinen Licht- und Schattenseiten nur aus den schönen, duftigen Perspektiven der Poesie an, bildet also in diesem Idealismus einen starken Gegensatz zu meinem Realismus des Naturforschers, der gerade die Natur dieses duftigen, wenn auch noch so schönen Nebelgewandes zu entkleiden und überall das Wirkliche in seiner nackten Wahrheit zu erkennen bemüht ist. Doch wird dieser Gegensatz unserer beiden Auffassungsweisen dadurch sehr vermittelt, daß Allmers auch großes Interesse an allen Naturwissenschaften hat, während ich umgekehrt mich auch sehr gern in den duftigen Fernen träumerischer Poesien verliere, woran natürlich mein Schatz die meiste Schuld hat. In unserer leidenschaftlichen Liebe für alles Schöne und Große in Natur und Kunst wetteifern wir dagegen beide, nur mit dem Unterschied, daß ich der ersteren den Vorzug gebe, A. der letzteren, was sich zum Teil durch die viel intensivere Beschäftigung mit dem einen und dem andern erklärt. Mein Interesse und Verständnis der antiken wie der mittelalterlichen Kunstwerke (von welch letzteren ich bisher nie recht viel wissen wollte) ist durch den anregenden und belehrenden Einfluß von A. mächtig gewachsen, und mir haben namentlich seine kunsthistorischen Kenntnisse und die sinnvolle Art, wie er sie anwendet, manche neue, schöne Seite des Verständnisses eröffnet; auch Architektur habe ich jetzt erst etwas verstehen gelernt.

Im Laufe unseres sechswöchentlichen Zusammenlebens haben sich denn auch allmählich die Unterschiede herausgestellt, die unsere beiden sonst wirklich sehr harmonischen Naturen scheiden. Allmers ist 14 Jahre älter und daher, obwohl voll begeisterten Jugendfeuers und poetischer Wärme, doch bedeutend milder und gesetzter, in der Beurteilung der Menschen und Verhältnisse milder und vielseitiger, in seinem Streben beharrlicher und fester als ich. Auf unseren Streifzügen ist er daher auch das besonnenere und ruhigere Element, und die lieben Alten können mich insofern schon gern in seiner Gesellschaft sehen, als er trotz aller poetischen Romantik doch kein Freund von Wagnissen und Abenteuern ist, auch Strapazen und Entbehrungen bei weitem nicht in dem Grade ertragen kann als ich. Beim Laufen und Bergsteigen bleibt er immer bald eine gute Strecke zurück.

Nun willst Du auch etwas von seinem Äußern wissen, lieber Schatz? Das ist freilich sonderbar genug und entspricht seinem wunderbaren und poetischen Innern keineswegs. Er selbst beschreibt es folgendermaßen: Denke Dir in der Mitte eines großen, deutschen Kopfes eine möglichst große, habichtschnabelgleich gebogene Nase und darunter einen möglichst kleinen Mund, darüber aber ein Paar recht treuherzige blaue Augen, aus denen der ehrliche, sinnige Deutsche unverkennbar hervorsieht; dazu nun noch lange, blonde Haare und eine breitrückige, untersetzte Gestalt. Und das sonderbare Bild, das mich beim ersten Anblick an eine Gnomengestalt aus Musäusī Märchen erinnerte, ist fertig. Ferner willst Du wissen, ob er verheiratet oder verlobt ist? Er ist es nicht und wird es nie sein, da er sich von frühester Jugend an eine Grille in den Kopf gesetzt hat, die sich völlig zur fixen Idee konsolidiert hat und die man halb wegen ihres edlen, schönen Endzweckes bewundern, halb wegen ihrer Einseitigkeit verurteilen muß. Er will nämlich sein ganzes schönes Erbgut und das bedeutende, damit verbundene Vermögen dazu verwenden, um in seinem über alles geliebten Heimatdorfe Rechtenfleeth eine nach ganz neuen, selbstaufgestellten Prinzipien eingerichtete Erziehungsanstalt für die dortige Dorfjugend zu gründen, und zwar in einer so vollkommenen


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Weise, daß ein wahres Musterdorf daraus entstehen muß. All sein Streben, alle auf seinen Reisen gesammelten schönen Erfahrungen gehen darauf hinaus, dieses Institut möglichst zu vervollkommnen, dessen Verwirklichung er sich zu seiner Lebensaufgabe gemacht hat. Gewiß eine höchst edle und schöne Absicht. Nur scheint mir der ganze Plan etwas zu ideal und reich poetisch angelegt zu sein, um sich in der beabsichtigten Weise realisieren zu lassen. Jedenfalls ist es aber höchst uneigennützig, um dieses edlen, gemeinnützigen Zweckes willen dem höchsten Glück des Lebens zu entsagen und für immer auf das selige Zusammenleben mit einem geliebten, gleichgesinnten Weibe zu verzichten, ein Glück, das die hohe und poetischen Selle meines trefflichen Freundes mit ihrem tiefen und reinen deutschen Gemüt gewiß mehr als die meisten andern zu genießen und zu gewähren fähig wäre! Im übrigen mußt Du den merkwürdigen, geistvollen Menschen selbst erst kennenlernen, um diese sowie manche andere eigentümliche Seite ganz zu würdigen. Ich freue mich schon jetzt darauf, mit Dir, liebstes Herz, ihn auf seinem Gute zu besuchen, das er mir gar nicht reizend genug mit allen seinen echt altgermanischen Zimmereinrichtungen uns schönene Kunstwerken schildern kann . . .


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