Italienfahrt - Ernst Haeckel

Sorento, 26. 7. 1859

Brief Nr. 33

Endlich, endlich an Deinem Namenstage - am "Annatag" - komme ich wieder dazu, mein liebster Schatz, mit Dir zu plaudern; sei mir nicht bös, daß ich Dich so lange habe auf Antwort warten lassen; aber diesmal ging es halt nicht anders - erst kam ich nicht zum Schreiben und dann ging das Schiff nicht, und also fehlte auch die Beförderungsgelegenheit. Morgen will mir nun ein Norweger diesen Brief mitnehmen . . .

Am 17. 7. wollten wir Neapel verlassen, aber heftiger Regen und Sturm (sehr erwünscht nach der langen Gluthitze) hielt uns bis zum 18ten. An diesem Tag fuhren wir nachmittag um 3 Uhr nach Portici, um den Vesuv noch vor Sonnenuntergang zu besteigen, und sowohl diesen, wie den Aufgang von Mond und das Glühen der Lava, vom Gipfel des Wunderberges zu beobachten . . .

Eine nähere Schilderung dieser Tour sollt Ihr später haben, heute nur so viel, daß Gott sei Dank alles noch gut genug ablief und wir mit blutig gerissenen Händen und Füßen und Verlust eines Theils des Gepäcks (das nämlich in eine Lavakluft fiel, als ich einmal einige 30 Fuß mit allen Gepäckballen herabrollte), wie mit einem blauen Auge davonkamen. Als wahren Trost kann ich Dir und den lieben Alten aber hinzufügen, daß diese tolle Tour, gegen die alle früheren Touren, die großen Gletscherwanderungen, die Ersteigung des Watzmann, Epomeo usw. reines Kinderspiel waren, mir für immer alle Lust zu übermäßigen Abenteuern benommen hat. Es wird wohl die letzte, allein unternommene, bedeutende Bergexkursion sein. Auch hat Allmers hoch und teuer geschworen, sich nie wieder meiner Führung dabei anzuvertrauen, und läßt Dir unter herzlichen Grüßen besonders versichern, daß er dafür sorgen werde, daß ich nie wieder etwas Ähnliches unternehme. Ich habe aber selbst allen Nisus zu abenteuerlichen Parforcetouren vollständig eingebüßt und könnt Ihr also für den weiteren Verlauf der Reise völlig beruhigt sein. Übrigens werden wir auch in Sizilien alle Touren mit Führer und Esel machen.

Unsere nächtliche Vesuvexkursion war aber auch so toll, daß sie hier in Neapel kaum Glauben fand. Ich kam unter der größten Anstrengung, wobei mir der Schweiß in Strömen am Leib herablief und von Zeit zu Zeit ein heftiger Krampf die Schenkel ganz kontrahierte, etwa nach 10 Uhr oben auf dem Gipfel an, der arme Allmers erst um 2 Uhr. Den Rest der Nacht bewunderten wir teils das furchtbar wilde und großartige Naturschauspiel ringsumher, eine wahre Hölle, nichts als schwarzer Tod und glühende Lava, teils wärmten wir uns gegenseitig, in einen gemeinsamen Plaid gewickelt und vor einer Fumarole hockend. An Schalf war auf den messerscharfen Zackenspitzen der glasharten Lava nicht zu denken. Nach Tagesanbruch bewunderten wir noch ein paar Stunden die köstliche Rundsicht beim schönsten Wetter, waren aber zu den beabsichtigten Aufnahmen viel zu elend und schleppten uns mühselig nach Neapel hinunter, wo wir erst am späten Nachmittag anlangten . . .

Mittwoch, 20. 7. Nachmittag fuhren wir auf der Eisenbahn nach Pompeji, und zwar, wie ich jetzt immer tue, 4. Klasse, eine in dem "gentilen" Neapel von einem "forestiere" unerhörte "Gemeinheit". Es gibt hier nämlich eigentlich nur drei Klassen, von denen die 2. schlechter als die 3., und die 1. noch nicht so gut als die deutsche 2. ist. Die 3. Klasse sind offene Wägen ohne Sitze, ganz gleich denen, in denen man bei uns die Pferde und Schweine transportiert. Nun ist aber die famose Einrichtung, daß Leuten der ärmsten Klasse, Lazzaronis usw. auch der Preis der 3. Klasse noch ermäßig wird, und zwar nur, wenn "Jacke und Mütze" oder Schifferhüte tragen, als "persone di giacca e coppola". Wir "poveri pittori tedeschi" machen nun unsere Exkursionen jetzt in einem so vollkommenen Schifferkostüm - worin besonders ein (den antiken Merkurhüten in der Form ganz gleicher) Strohhut im Preise von 5 Gran (20 Pfennig!!) charakteristisch ist - daß selbst die steinherzigen Eisenbahnbilleteurs mit unserer Künstlerbörse Mitleid empfinden und, wenn wir 3. Klasse verlangen, uns die noch viel billigere 4. geben. Da fahren wir denn im bunten Gemisch mit allen möglichen Leuten der niedersten Klassen, besonders Bauern und Schiffern, und haben weit mehr Amüsement, sehen mehr Interessantes und lernen Land und Leute viel besser kennen als in den langweiligen Menageriekästen der 2. Klasse. Bei den vornehmen Neapolitanern, bei denen Gehen eine Sünde und Glacéhandschuh und Zylinderhut unerläßliche Bedingungen zum Leben für eine "uomo civile" sind, haben wir dadurch natürlich allen Kredit eingebüßt, Gott sei Dank! Doch ich vergesse über unserer famosen "giacca e coppola" ganz unser liebes, herrliches Pompeji, in dem wir in rechter, reiner, deutscher Künstlerlust zwei überaus genußreiche Tage verlebt haben. Vor dem Seetor Pompejis steht eine recht gemütliche, gute Künstlerkneipe, Hotel de Diomède, in deren Veranda und luftigem Oberdeck wir uns recht nett eingelebt hatten; die Bedienung war so freundlich und die Bewirtung so gut und billig als nur irgendwo in Italien. Das gilt aber auch nur für "Artiste", für Maler und Architekten (als welche wir hier überall halb so teuer und doppelt so gut als andere Menschen leben!). Für Engländer und andere "forestieri" ist es hier so teuer wie in den ersten Hotels Neapels. Übrigens geriere ich mich auch so vollkommen als pittore, daß noch kein Italiener an meiner wahren Künstlernatur gezweifelt hat!

Allmers hatte mittelst mehrfacher, dringender Empfehlungsbriefe sich beim Direktor der Kunstsammlungen usw. die Erlaubnis ausgewirkt, allein, ohne die lästige Beaufsichtigung eines Führers, in Pompeji herumgehen und zeichnen zu dürfen. Dieses schätzbare "permesso" haben wir denn auch redlich benutzt und sind vom Morgen bis zum Abend (mit nur 2 Stunden Unterbrechung) nach Herzenslust in der alten, verzauberten Wunderstadt umhergetrieben, mit offenem, frischem Sinn den herrlichen Geist des klassischen Altertums in vollen Zügen einsaugend . . .


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Diese Seite wurde erstellt am 22. Juni 1999