Italienfahrt - Ernst Haeckel

Neapel, 8. 7. 1859

Brief Nr. 32

. . . Einen köstlichen Tag verlebten wir gestern bei den pompejanischen Wandgemälden. Ich glaube Dir schon früher geschrieben zu haben, liebstes Herz, in welchem Grade mich der hohe, edle, einfache Charakter vollendeter Schönheit, der aus diesen Gemälden spricht, mich entzückt hat, um so mehr, als er ganz unerwartet war. In Beziehung der idealen und doch so naturwahren Auffassung lassen diese antiken Gemälde nach meinem Geschmack alle modernen weit hinter sich - und doch findet man in unseren jämmerlichen Lehr- und Handbüchern die Malerei der Alten kaum dem Namen nach erwähnt. Wir haben gestern den ganzen Tag vor nicht mehr als vier Gemälden zugebracht, deren Köpfe Allmers sich genau abgezeichnet hat . . .

. . . Das reizendste Bild, das ich vielleicht allen andern vorziehe, war eins, welches ich gewissermaßen erst entdecken mußte; da es, weil es sehr ruiniert und vernachlässigt ist, wie alle derartigen Bilder, ganz in einer alten, staubigen Ecke unten am Boden versteckt war . . . Als ich diese köstliche Perle aus ihrem Schmutz und Staube herausgefunden, konnten wir uns lange nicht von ihrem ergreifenden Anblick trennen; die Hauptfigur ist eine Jungfrau, die, von einem Sklaven gestützt, in ein Schiff steigt. Hinter ihr steht ein junger, trotziger Krieger, der mit ebensoviel Bestimmtheit und Mut auf das Schiff hinausschaut, als der unendlich schöne und tiefe Blick des reizenden Mädchens Unsicherheit und Bangigkeit verrät. In diesen köstlichen Augen liegt eine ganze Welt von Gefühlen. Mit der größten Kunst könnte man die Flut widerstreitender Ideen, mit der der Mensch einem dunkeln, unbestimmten Schicksal entgegensieht, nicht reicher und tiefer ausdrücken, als hier geschehen ist, mittelst ein paar einfacher Pinselstriche. Nichts ist überhaupt mehr zu bewundern als die ungemeine Einfachheit der Mittel, mit der die Maler der Alten diese großartigsten Resultate erzielten. Alles geschieht durch möglichst wenige, einfache, breite Pinselstriche, und diese geben eine Wirkung, die man a priori für unmöglich halten sollte. Was unser Bild vorstellen soll (das leider sehr beschädigt ist), haben wir nicht erfahren können; ich vermute: Kassandra, die nach der Zerstörung Trojas von Ajax Oileus, dem Lokrerkönig, auf sein Schiff gebracht wird. Der wunderbare, tiefe Blick der überaus edlen und schönen Jungfrau hat mich seitdem förmlich verfolgt. Augen habe die Alten überhaupt in einer so wunderbaren Weise darzustellen gewußt, daß alle unsere neue Malerei dagegen als Stümperei erscheint, und wie ungemein einfach ist das alles! . . .


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Diese Seite wurde erstellt am 22. Juni 1999