Italienfahrt - Ernst Haeckel

Neapel, (Anfang). 7. 1859

Brief Nr. 31

Die fortwährende Spannung und unruhige Erwartung über die nächsten Kriegsereignisse und den Anteil, den wir daran nehmen werden, hat mich natürlich in der letzten Woche wenig zu dem reichen Genuß von Neapels Kunst und Natur kommen lassen, zu dem wir jetzt, namentlich seit ich das Arbeiten ganz aufgegeben, vornehmlich durch Allmers Gesellschaft die Quelle geöffnet ist. Jetzt, wo mich nicht mehr das Mikroskop und der Büchertisch an das Zimmer fesseln, sehe ich Neapel mit ganz anderen Augen an und habe in den acht Tagen, seit ich wieder hier bin - trotz jener unruhvollen Störungen - mehr von Neapel selbst gesehen als in den ganzen 2 1/2 Monaten vorher. Ich wohne jetzt in einem der Zimmer S. Lucia Nr. 31, die durch ihre wundervolle Aussicht, die für die schönste in Neapel gehalten wird, berühmt sind, und zwar in einem der höchsten Nester - vier Treppen, d. h. 116 Stufen hoch!! - von denen das Reisehandbuch sagt: "Sie eignen sich für Maler, deren Lunge besser als ihr Beutel bestellt ist!" Du, liebste Mutter, würdest mich auf dieser steilen, schwindelnden Turmhöhe wohl kaum besuchen. Die Stube ist sehr groß und geräumig, so daß selbst die in Ischia gesammelten Pflanzenschätze völlig ausgebreitet darin Platz genug haben; doch ist sie niedrig und sehr heiß, da das flache Dach unmittelbar darüber und die Sonnenstrahlen, von dem steilen Felsen Pizzo Falione, an den das Haus angeklegt ist, abprallend, recht wohl darauf brennen. Hitze und Treppenspringen weden aber reichlich aufgewogen durch die überaus herrliche Rundsicht, die mir jeder Blick aus dem Fenster gewährt. Es ist deren hier nur eins (wie in jeder Stube), und dieses ist sehr groß und führt zugleich auf den nie fehlenden kleinen Balkon hinaus. In weiter blauer Rundung breitet sich der prächtige Golf zu meinen Füßen aus, grade gegenüber der rauchende Vulkan in seiner ganzen mächtigen Breite mit den wundervoll geschwungenen Linien, rechts davon die malerische Zackenkette der Sorrentiner Gebirge bis zu dem weit vorspringenden Kap Campanella - links die violette Mauer des langgestreckten Appenin, darunter der weite Hafen und die Darsena mit ihrem Mastenwald und dem roten Leuchtturm, welche über die weitvorspringenden Molomauern wegsehen. Dazu das ewig wechselnde Schauspiel der tausend kleinen und großen Barken und Schiffe, die beständig die blaue, weite Fläche durchziehen. Grade gegenüber dem Fenster liegen das mächtige englische Linienschiff "Centuria" und die zierliche amerikanische Fregatte "Macedonien".

Unerschöpflichen Stoff zum Sehen und Bewundern gibt dazu das höchst bewegte Leben der S. Lucia selbst, die ich hier in ihrer ganzen Länge überschaue. Das Treiben der vielen hundert Caruzzen, Curricule und anderen Fahrzeuge, der Maultiere und Esel, der Soldaten, Marinari, Fischer und Nobilis, die es in jeder Stunde passieren und mit ihrer unerschöpflichen Lunge ein Lärmen und Geschrei vollführen, durch zahlreiche Dudelsackpfeifer und Marionettentheaterquäker akkompagniert - welches unten ganz unerträglich ist, zu meiner schwindelnden Höhe aber nur angenehm gedämpft heraufklingt. Den reizendsten Anblick bietet die S. Lucia aber abends, wenn die langen Reihen der Buden von Austernverkäufern und Fischern in hellen Lichtern prächtig funkeln und der übrige Kai sich dieser Illumination anschließt, die durch die wechselnden Feuer der Leuchttürme, durch das rote Lavaglühen des Vesuv, das grünliche Funkeln der See, die in den letzten Tagen prächtig leuchtete, zu einem wunderbaren und in seiner Art einzigen Nachtbild vervollständigt wird; und dies Getreibe dauert jetzt den größten Teil der Nacht hindurch, da die Neapolitaner jetzt schon die Nacht zum Tag machen und dafür den ganzen Tag über schlafen! Stundenlang stehe ich da abends mit meinem leiben Allmers auf dem Balkon, bewundere das köstliche Schauspiel und erzähle ihm von dem zwar nicht so großartigen und prächtigen, mir aber doch so viel lieberen Feuerwerk, mit dem die Koksöfen am Hafenplatz Nr. 4 mich erwarten. Allerliebsterweise habe ich grade das Zimmer neben Allmers bekommen; unsere Verbindungstür steht den ganzen Tag offen und wir leben wir Brüder zusammen . . .

Den größeren Teil der letzten acht Tage habe ich mit Ordnen und Schreiben der Ischia-Erinnerungen und der massenhaften Pflanzenschätze sowie Vollenden unserer Aquarellskizzen zugebracht. Zwei Vormittage war ich mit Allmers im Museo Borbonico, wo er mir durch seinen ungemein zarten, feinfühlenden, hochpoetischen Kunstsinn und seine hübschen kunstgeschichtichen Kenntnisse, die mir leider ganz mangeln, eine neue Welt eröffnet hat; auch in dieser Beziehung würde die sizilianische Reise in seiner Gemeinschaft doppelte Frucht für mich bringen. Meine Zeichenbestrebungen haben auch durch ihn neues Feuer erhalten, und ich wetteifere mit ihm darin in Fleiß und Lust, leider nicht in Talent und Geschick. Vorigen Sonntag haben wir köstlich in Camaldoli verlebt, von dem ich Euch schon früher schrieb und das für den schönsten Punkt in Neapels Umgebung gilt . . .


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Diese Seite wurde erstellt am 22. Juni 1999