Italienfahrt - Ernst Haeckel

Neapel, 2. 7. 1859

Brief Nr. 30

Vermutlich werdet Ihr heut oder gestern meinen letzten Brief vom 25. 6. bekommen haben, den ich nach meiner Rückkehr von Ischia, unter dem vollen Eindruck der Nachricht von der Mobilmachung, schrieb. Soviel ich mich erinnere, war er ziemlich konfus und unlogisch hingeschrieben, da die Idee von der plötzlichen Notwendigkeit der Rückkehr nicht in die schönen Reisepläne passen wollte, die ich soeben erst mit meinem lieben Allmers ausgedacht hatte, und die durch den köstlichen Aufenthalt in Ischia neues Leben und frische Nahrung erhalten hatten. Auch hatte die darauffolgende schlaflose Nacht, in der das angenehme Leben eines königlich preußischen Militärunterarztes mit Feldwebelrang, mit seinen verschiedenen Bandagierbeschäftigungen und offiziellen Plackereien lebhaft meine Phantasie beschäftigte und mit den gehofften Reisefreuden Siziliens in sonderbaren Kontrast trat, mich dergestalt verstimmt, daß jene letzten Nachrichten Euch vermutlich wenig erbaut haben werden. Ich erwartete bestimmt, daß am folgenden Montag die Einberufungsordre eintreffen werde, zumal mir ein hiesiger Landwehrleutnant auseinandersetzte, daß die Armeereserve, zu der ich gehöre, zugleich mit der Landwehr mobil gemacht würde. Doch muß dies wohl nicht richtig sein, da Dein letzter Brief, mein liebster Schatz, den ich am Montag erhielt, wider Erwarten kein Wort von einer für mich eingetroffenen Einberufung sagt und auch am Donnerstag, wo das zweite, direkte Schiff kam, keine weitere Nachricht von Euch angekommen ist. Die fieberhafte Unruhe, die mich in dem ersten Teil dieser Woche aufregte, hat sich daher im zweiten etwas gelegt, und ich möchte nun fast vermuten, daß ich vorläufig nicht eingezogen werde. Doch ist die Ungewißheit darüber immerhin sehr unangenehm, und ich erwarte mit größter Spannung die weiteren Nachrichten. Gerade jetzt wäre mir die Unterbrechung des ganzen Reiseplans sehr unangenehm, da ich nach langem Kampf mit Heimweh und Liebessehnsucht, deutscher Idealschwärmerei und abstrakter Grillenfängerei, die mir anfangs in Italien die Augen ganz verschlossen, jetzt endlich so weit gekommen, diese Gedanken nicht zu verdrängen und zu vernichten, aber in natürlicherer Weise zu modifizieren, so daß ich neben aller Liebe und Sehnsucht, mit der ich in jeder Stunde an die leibe Heimat mit all ihrem Süßen zurückdenke, doch noch die Augen offen behalte für all das Schöne und Große, was Italiens Kunst und Natur überall in so reichem Maße bietet . . .

Mit welcher Spannung und Teilnahme wir jetzt immer die Nachrichten aus dem Norden und insbesondere über die Haltung Preußens erwarten, könnt Ihr Euch denken. Ich lese bei Binz die "Kölnische Zeitung", deren vernünftige, besonnene Artikel mich sehr ansprechen. Allmers, Binz und ich sind die einzigen Deutschen, die hier diese Richtung vertreten, und zwar mit einem Eifer, der uns schon manche Feinde zugezogen hat. Die übrigen Deutschen sind alle durchaus Österreich freundlich gesinnt, und namentlich sind die Herren, die mit uns am Tisch aßen, durch und durch Kreuzzeitungsritter, so daß ich mit diesen ganz auseinander bin. Leider wird hier fast ausschließlich die "Allgemeine Augsburger Zeitung" gelesen, werlche durch ihren Austriazismus hier allen Deutschen die Köpfe verdreht hat. Glücklicherweise ist sie seit dem 9. 6. gänzlich ausgeblieben, da sie nicht mehr durch Frankreich hindurchgelassen wird. Sollte Preußen wirklich so töricht sein, jetzt aktiv und aggressiv zugunsten der doch verlorenen Lombardei einzuschreiten, so hätte dieses infame Lügenblatt einen großen Teil der Schuld daran durch seine ewigen Hetzereien. So sehr leid mir die lieben, tüchtigen Tiroler und Steiermärker und alle die österreichischen Deutschen tun, die zugunsten des österreichischen Kaiserhauses zu Tausenden sich schlachten lassen, so wenig kann ich irgendeine Sympathie für Österreichs Herrschaft in Italien fühlen und fände es wohl am besten, daß sie die Lombardei gänzlich aufgeben. Sollten wir für Unterdrückung der italienischen Nationalität, deren Freund ich sonst durchaus nicht bin, das Schwert ziehen, so würde ich nur höchst ungern meine Unterarztdienste dazu hergeben; sollten wir dagegen einberufen werden, um der elenden deutschen Kleinstaaterei und Junkerwirtschaft ein Ende zu machen, die 36 Raubstaaten in ein freies, mächtiges, einiges Deutschland zu verwandeln und die despotischen Raubritter und Fürsten daraus zu verjagen, so würde ich mit Vergnügen alle meine Pläne deshalb aufgeben; sollte der Prinz von Preußen den Mut haben, die Frankfurter Reichsversammlung von 1849 als zu Recht fortbestehend zu proklamieren und sich als Kaiser an die Spitze zu stellen, so würde ich mit Flügeln zurückeilen, um mein Wollen und Können dazu hinzugeben. Freilich sind das wohl nur schöne Träumereien, die unser liberales Kleeblatt hier in bescheidener Zukunftshoffnung ausgeheckt hat; hoffentlich werden wir aber doch noch einmal etwas erleben, was dem ähnlich sieht . . .


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Diese Seite wurde erstellt am 22. Juni 1999