Italienfahrt - Ernst Haeckel

Neapel, 23. 5. 1859

Brief Nr. 22

. . . Daß es Dir in Freienwalde so gefällt, freut mich recht sehr, und ich begleite Dich oft in Gedanken auf den reizenden Spaziergängen, die wir im Juli des vorigen Jahres dort zusammen machten. Könnt´ ich nur einmal wöchentlich wieder so ein seliges Stündchen mit Dir verleben! Grüß mir das Hammertal recht vielmals und den reizenden Pillgrund. Wie einfach und gleichförmig auch die dortige, wie so viele andere unserer norddeutschen Landschaften sein mag, sie haben doch ihre eigenen, sehr großen Reize, die der berühmten italienischen Landschaft ganz abgehen. Dahin gehört vor allem das Element, welches für uns beide recht besonderes Interesse hat, das Wasser und der Wald. Abgesehen natürlich vom Meer, das ja grade hier in Neapel durch seinen Farbenglanz und die malerische, phantastische Küstengestaltung so reizend erscheint, fehlt das Wasser in der hiesigen Landschaft gänzlich. Ich habe während der ganzen Zeit meines bisherigen Aufenthalts, in der ich doch schon ziemlich umhergestrichen bin, noch nicht einen einzigen Bach, geschweige denn Fluß oder Strom gesehen. Die starken atmosphärischen Niederschläge, die dicken Regenströme und der starke Tau müssen den absoluten Mangel des fließenden Wassers ersetzen. Doch bleibt das Land trotzdem immer trocken und staubig, was bei großer Sonnenhitze besonders unerträglich wird. Nicht weniger als der schöne, frische Quellenreichtum unseres Nordens wird hier der reiche Schmuck unserer frischgrünen Wälder vermißt, für den die Orangenhaine und die traurig silbergrünen Olivenpflanzungen nur ein schwacher, trauriger Ersatz sind. Nein, es lebe Deutschland! - . . .

Da ich nun meine Wohnung in der S. Lucia in den nächsten Tagen verlasse, muß ich Dir vorher doch noch eine kline Skizze von dem Raum geben, der Deinen Ernst nun schon 2 1/2 Monat beherbergt, so oft Deinen Namen gehört und täglich Dein liebes, freundliches Bild gesehen hat. Das beste an dem kleinen Zimmer ist die wunderherrliche Aussicht, von der Du einen Teil, nämlich die in der Mitte gelegene Vesuvansicht, schon aus einem früheren Briefe kennst. Rechts schließt sich daran die schöne, zackige Kette der Sorrentiner Berge bis zum Campanellakap, allerdings durch das grade davorgelegene Castel dell´ uovo größtenteils verdeckt. Links vom Vesuv erscheint über dem langen Molo mit seiner Hafenbatterie die schöne, langgestreckte, ferne Kette des blauen Apennin, zum Teil durch den aus dem Hafen vorragenden Mastenwald verdeckt. Den Mittelgrund des reichen, bunten Gemäldes füllt der blaue Golf mit seiner ewig wechselnden Szenerie, durch die verschiedensten Schiffe belegt. Im Vordergrund endlich habe ich den ganz kleinen, durch zwei gekreuzte Steindämme eingefaßten Hafen der S. Lucia, in dem die kleinen Fischerbarken liegen un deine Menge Gerüste zum Fang der "Frutti di mare", der Seeigel, Muscheln, Schnecken usw. angebracht. An diesen schließt sie, unmittelbar unter meinem Fenster, die breite, sonnige Straße S. Lucia selbst, welche, da sie die Verbindung von Alt- und Neu-Neapel, d. h. von der Hafenstadt mit der Riviera di Chiaja, herstellt, außerordentlich belebt ist. Hier in Neapel ist das aber ein wahres Unglück, und schon dies allein könnte mir den längeren Aufenthalt hier ganz verleiden. Denn von dem unerträglichen Skandal, der hier selbst in den nur mittelmäßig belebten Stadtteilen herrscht, würde man bei uns vergeblich sich ein Bild zu machen suchen. Ein ruhiger Norddeutscher, plötzlich hierher versetzt, würde sich in einem Tollhaus zu befinden glauben. Ordentlich sprechen können die Leute hier gar nicht, entweder gestikulieren (worin sie wahre Meister sind und eine vollständige Telegraphensprache besitzen) oder aber schreien und toben, als gälte es die wichtigste Angelegenheit des Staats; dabei ist es das kleinste Bagatell. Die zahllosen Ausrufer usw., die auf der Straße debutierenden Dudelsackpfeifer, Marionettentheater-Direktoren usw. tragen nicht wenig dazu bei, diesen Lärm zu vervielfältigen, und die unaufhörlich auf und ab fahrenden Wagen und Karren, die horribel schreienden Esel und Maulesel machen daraus vollends ein Konzert, das einem alle Seelenruh´ zu nehmen imstande ist . . .

Schon an und für sich ist das kleine Zimmer so eng, daß eine einigermaßen wohlbeleibte Person sich nur mit Mühe darin herumdrehen kann; nun denk Dir aber noch all das kleine Hausgerät und Handwerkzeug des Naturforschers darin zerstreut; die Netze, die Eimer für die Seethiere, das zum Trocknen aufgehängte und ausgebreitete Pflanzenpapier, die Pflanzenpresse, die verschiedenen, zum Trocknen präparierten Tiere usw., und Du kannst Dir einen Begriff machen, wie eng und ungemütlich es da zugeht. Die schöne freie Aussicht auf das Meer und die sehr günstige Lage so nah am Strand (ich muß öfter täglich mehrmals mir frisches Seewasser im Eimer selbst heraufholen) sind kaum imstand, diese Unbequemlichkeiten etwas aufzuwiegen. Die S. Lucia selbst ist eine kurze, breite Straße, welche das Arsenal mit dem Castel dell´ uovo verbindet. Letzteres liegt auf einer sehr kleinen Klippeninsel, die nur durch eine schmale, lange Brücke mit dem Land verbunden ist. Da es grade an einem vorspringenden Winkel des Golfs gelegen, weit in diesen hineinragt, bildet es eine der größten pittoresken Zierden der Stadt von allen Seiten. In der Mitte der S. Lucia springt ein Rondel ins Meer vor, auf welchem oben die Austernfischer, die Corallari und die Fischer, die sich mit dem Fang der "frutti di mare" beschäftigen, feilhalten. Meist findet man außer Austern daselbst Seeigel, Muscheln (Solen, Cardium, Venus), Ascidia rustica usw., welche unter dem Kollektivnamen der "Seefrüchte" von den Fischern zusammengefaßt werden. Doch habe ich wenig für mich Brauchbares da gefunden.

Vom Rondel steigt man auf wenigen Stufen zu einer gemauerten Umfassung hinunter, die eine Schwefelquelle einschließt. Hier sitzen die für ihre gute Verdauung sehr besorgten Neapolitaner der mittleren Klassen alle Abend bis spät in die Nacht hinein beisammen und trinken um die Wette von dem scheußlichen Schwefelwasser, das noch mit einer Menge Schlamm verunreinigt ist. Da hier zugleich der Landungsplatz der kleinen Fährboote ist, so geht es hier immer sehr lebhaft zu, besonders Sonntags, wo das dichte Gewimmel der ab und zu gehenden Personen auch in tiefer Nacht nicht aufhört. Innerhalb des kleinen Hafens, der sich bis vor mein Fenster erstreckt, sehe ich jeden Abend mehrere Barken mit Fackeln zum nächtlichen Fischfang hinausfahren. Das Glühen der roten Fackeln und ihr Widerschein im Wasserspiegel, mit der glühenden Vesuvlava um die Wetter, der vorn im Boot stehende und den Spieß zum Aufspießen der Fische haltende Mann, der immer aufmerksam in die Tiefe späht, geben ein sehr malerisches Bild ab. An der Ecke der S. Lucia, wie fast an allen Straßenecken, stehen die Buden der Acquajolen, d. h. der Wasserhändler. Diese halten den ganzen Tag über Eiswasser vorrätig, was bei dem allgemeinen Mangel guten Trinkwassers in der Stadt eine wohltätige Einrichtung ist. Meist läßt man sich eine Zitrone oder Orange in das Wasser hineinpressen, jetzt bei der Hitze eine treffliche, durststillende Erquickung . . .


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