Italienfahrt - Ernst Haeckel

Neapel, 20. 5. 1859

Brief Nr. 23

Freitag.

Zweite Vesuv-Exkursion.

Ich ging diesmal ganz allein, fuhr um 5 Uhr auf der Eisenbahn nach Portici und stieg dann über Resina zwischen den Mauern der Fruchtfelder und Orangengärten empor. Die Lava war seit meinem ersten Besuch (vor 4 Wochen) etwa eine Viertelstunde weiter heruntergerückt und hatte die in Schlangenwindungen aufsteigende schöne neue Straße an vier Stellen überflossen und unterbrochen. Die Villa Fiorillo, bei der damals der Lavastrom zum erstenmal die Chaussee kreuzte, lag schon tief darin begraben, die damals blühenden Obstgärten und Weinberge waren mit der undurchdringlich festen schwarzen Decke verhüllt. Zufällig traf ich ein paar Träger, die zum Kegel heraufstiegen und deren Schritten folgend ich glücklich über das unterste Ende des Lavastroms hinwegstieg, aus dem überall kleine glühende Bäche hervorquollen und die vorliegende Pflanzung anzündeten. Die Stücke, auf denen ich den Übergang suchen mußte, waren noch ganz heiß, dampften mächtig, und 1/2 Fuß darunter, oft auch rings von allen Seiten, schoben sich die glühendflüssigen Massen über und durcheinander hervor. Auf der Höhe der Bank stand ein mächtiger ausgehöhlter Lavablock, aus dessen Innern kaskadengleich ein Feuerstrom hervorkam und sich über eine steiel Böschung etwa 30 Fuß hoch herabwälzte. Die eigentümliche Bewegung der dickflüssigen, breiartigen Kieselverbindungen ließ sich hier schön in der nächsten Nähe beobachten. Da die Reibung an den unebenen, einschließenden Wänden sehr stark ist, so fließen die beiden Seitenteile des Stroms viel langsamer als die Mitte, und so entstehen die strickförmigen, nach innen konvex vorgewölbten Linien auf der Oberfläche, die rasch erstarrt, während die Masse zunächst darunter noch lange flüssig bleibt. Diese konzentrischen Liniensysteme erinnern ganz an die sogenannten Gufferlinien der Gletscher, ebenfalls nach vorn vorgewölbte, erhabene Krümmungen der Gletscheroberfläche, die auch der gleichen Ursache, dem rascheren Fluß der Mitte ihre Entstehung verdanken. Überhaupt fiel mir heute wieder mehrfach die Analogie zwischen manchen charakteristischen Bildungen der Lavaströme und der Gletscher auf. Nur ist natürlich die Schnelligkeit der Bewegung bei ersteren viel, viel bedeutender, da die Masse viel dünnflüssiger ist als das Gletschereis, dessen Körner viel inniger zusammenhängen und sich schwerer verschieben. Besonders muß dies bei einem großen, breiten Lavastrom der Fall sein, der, wie es bei den meisten Eruptionen der Fall ist, gleich nach dem Ausfließen erstarrt. Der Lavastrom, dessen Fluß noch gegenwärtig fortdauert, unterscheidet sich aber darin merkwürdig von allen andern, frühern, daß er gleichsam chronisch ist, während jene alle mehr oder weniger akut waren. Elf Monate fließt nun bereits ununterbrochen Lava aus und hat bereits eine ungeheure Schlucht an der Westseite völlig ausgefüllt. Während die feuerflüssigen Silikate sonst aus einer einzigen großen Auswurfsöffnung in dickem Strom hervorquellen, findet hier umgekehrt der Ausfluß aus vielen tausend kleinen Öffnungen statt, deren Lage man unter den hoch darüber aufgetürmten, schon erstarrten Massen nicht mehr angeben kann. Der ganze Boden darunter muß trichterförmig durchlöchert und die ganze Masse von einem glühendheißen Adernetz durchzogen sein. Oben, untern, an der Seiten, überall, wo sie sich zufällig Bahn brechen, dringen Hunderte von kleinen Feuerquellen hervor und verändern die Bodenformation wesentlich auch noch da, wo man sie längst fixiert glaubt. Ich sah heute den Ausfluß aus mehreren kleinen Mündungen ebenso reichlich und lebhaft an einer schon eine halbe Stunde höher gelegenen, größtenteils schon erstarrten Decke, wie an dem jüngsten untersten Teile, der sich noch mit relativer Schnelligkeit verschob. Über einen start geneigten kleinen Abhang des letzteren floß die Lava am Abend, wo ich über 2 Stunden dabei stand, gegen 4 Fuß weit vor. Meist geht es aber viel langsamer.

Nachdem ich die erste, unterste Lavamasse passiert hatte, mußte ich noch über drei andere wegklettern, die die Straße neuerdings wieder überschritten hatten, ehe ich auf die alten Laven kam, auf denen man zum Osservatorio emporsteigt. Da die Morgennebel sich noch nicht ganz niedergeschlagen hatten, blieb ich hier bei dem etwas oberhalb gelegenen Kreuz sitzen und machte eine Aquarellskizze von dem prächtigen Bild, in dem der Golf von Neapel hier in prächtiger Rundung vorlag. Um Mittag wollte ich endlich zum Kegel selbst aufsteigen; da sich jedoch eine dichte Wolke unbeweglich um sein Haupt gelagert hatte und auch weiterhin die Berge von Sorrent und die Inseln im Nebel noch verhüllt waren, so wäre die Aussicht heut nicht lohnend gewesen, weshalb ich nur bis in den Sattel zwischen Somma und eigentlichem Vesuv hineinstieg und am Fuß des eigentlichen Aschenkegels, im Atrio dei cavalli sitzend, eine Skizze von dem außerordentlich wilden, zerrissenen, nackten Felsformen entwarf, in denen der Kamm der Somma fast in Form eines Amphitheaters sich um das Atrio ringsumher zieht. Gegen Abend kletterte ich noch auf den alten, vielfach durcheinander gemengten Laven umher, welche den Boden dieses Sattels erfüllten und die größte Fülle von abenteuerlich und phantastisch geformten Schlackenlaven darbieten . . .

Der Abend auf dem Vesuv war sehr schön. Die Inseln und der Posilip erschienen gegen Sonnenuntergang im herrlichsten Blaulicht. Ich eilte rasch vom Observatorium über die Lavafelder hinunter, um noch vor Dunkelwerden wieder auf festem Boden, d. h. jenseits der letzten, noch feuerflüssigen Strecke zu sein, kam aber kaum noch vor Toresschluß hinüber. Ich mußte lange probieren, ehe ich für die letzte Strecke zwischen den hervorquellenden Feuerbächen hindurch einen sicheren Pfad gefunden hatte, und hätte mir doch beinah zu guter Letzt noch die Sohlen verbrannt. Meine schweren, dicksohligen und eisenbeschlagenen Alpenschuhe leisteten mir dabei wieder die trefflichsten Dienste. Das herrlichste Schauspiel wartete aber meiner noch, als es ganz dunkel wurde; ich glaubte mich wirklich in ein orientalisches Märchen versetzt. Die roten Feuerströme, die zu Hunderten aus den Flanken des Berges hervorquollen, erschienen in der schwarzen Nacht überaus herrlich und lieferten ein Schauspiel, das seinesgleichen suchte und das sich die lebhafteste Phantasie kaum prächtiger vorstellen kann. Besonders herrlich erschienen die kleinen Feuerquellen in unserer nächsten Nähe, an die ich bis auf 2 Fuß Entfernung herankletterte, um so die interessanten Bewegungserscheinungen in nächster Nähe zu beobachten. Sehr interessant war das Fortwälzen des äußersten Vorderteils des Stroms, der, wenn er an einem kleinen Absturz oder einer Lavaklippe angelangt war, abbrach und wie ein roter Goldklumpen halb fließend, halb rollend ein paar Schritt weiter hinunterfiel. Das Schauspiel war so überaus herrlich, so reich an immer neuen und wechselnden, prachtvollen Szenen, daß ich über 2 Stunden dort verweilte. Erst um 9 1/2 Uhr schickte ich mich an, noch die 3 Stunden nach Neapel zu Fuß zu laufen. Da führte ein glückliches Ungefähr vier deutsche Damen (zwei aus Berlin und zwei aus Dresden) herbei, welche in einem Wagen herausgefahren waren, um das Glühen der Lava zu sehen. Ich hatte sie an unseren Mittagstisch kennengelernt, führte sie nun noch zu den Feuern herauf und sie waren dann so freundlich, mit den Platz neben dem Kutscher auf dem Bock anzubieten, was ich mit großem Vergnügen annahm und so noch ziemlich rasch und bequem um 12 Uhr nachts nach Neapel zurückgelangte, reich beladen mit botanischen Schätzen und den schönsten unterweltlichen Feuerlandschaftsbildern, von denen ich mir wünschte, daß meine Feder noch einigermaßen ein Bild von ihrer Pracht entwerfen könnte . . .


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