Italienfahrt - Ernst Haeckel

Neapel, 16. 5. 1859

Brief Nr. 21

. . . Die verflossene Woche verlief wie die vorhergehende; das schlechte Wetter, fast täglich Regen, mit abwechselnden heftigen Winden aus allen Himmelsgegenden, hielt mich immer zu Hause, und ich bin in der einen angefangenen Arbeit endlich einmal ein sichtliches Stück vorgerückt, habe aber auch meist von früh 5 Uhr bis abends 5 Uhr ununterbrochen hinter dem Mikroskop gesessen. Nur einmal habe ich mich früh durch ein prächtiges kühles Bad am Strand gestärkt. Die pelagische Fischerei war durch das aufgeregte Meer wieder unmöglich gemacht, und so hat mich ein Mollusk, die prächtige Thetis, die ganze Woche fast ausschließlich beschäftigt. Nur ein Tag war schön, der letzte Donnerstag (12. 5.), und diesen benutzte ich zu einer hochinteressanten Exkursion. Es war dies die erste, die ich hier in Neapel so ganz à mon gout machte, d. h. früh 5 Uhr aufgebrochen, immer zu Fuß gelaufen, nach Herzenslust ganz allein ohne Weg und Steg herumgestiegen, botanisiert, gemalt und dabei den ganzen Tag nichts als ein paar hartgekochte Eier, Apfelsinen und trocken Brot genossen. Nichts gleicht dann dem Vergnügen, wenn ich abends totmüd nach Haus komme, reich beladen mit botanischen Schätzen und mit der schönen Erinnerung an einen reinen, durch keinen menschlichen Mißton getrübten Naturgenuß. In der Art war die letzte Exkursion so recht nach meinem Geschmack.

Ich ging früh 5 Uhr über die Chiaja, den schönen Weg durch die Villa reale und am Strand hin, durch die Grotte des Polilipo, dann rechts ab zwischen hohen Gartenmauern, über die schöne, im frischen Frühlingsgrün prangende Bäume hinwegschauten, nach dem über 2 Stunden entfernten Lago dŽAgnano, einem kleinen, in einen waldigen runden Bergkessel (ein alter Krater) eingeschlossenen See, der durch die Hundsgrotte (grotta del cane), in welcher eine fußhohe Kohlensäureschicht steht, berühmt ist. Ich ging längs des Ufers rings um den ganzen See herum, dann an dem Astroni, einen großen schönen, jetzt dicht bewaldeten Krater vorbei nach der Solfatara, dem berühmten eingestürzten Vulkan, aus dessen hohlklingendem Boden noch jetzt an vielen Stellen heiße, saure Dämpfe emporsteigen. Ich hatte beim Botanisieren den Weg bald verloren und mußte den steilsten Abhang der Kraterwand hinaufklimmen, der durch seine mineralogischen Überzüge gerade besonders interessant war und auch einige prächtige Blumen aufwies. Als ich den höchsten Punkt erreicht hatte, wurde ich durch eine ebenso schöne als merkwürdige Aussicht überrascht. Ich stand an dem oberen Rande eines weiten, regelmäßig gerundeten Kraterkessels, dessen Boden fast ganz nackt, nur mit weißen und gelben Sublimationsprodukten dicht bedeckt war. Nur ein einigen Stellen der Wände schmückten zahme Kastanienbüsche die verwitterte Lava. Grade zu meinen Füßen quoll unter sausendem Getöse, wie aus dem Schornstein einer großen Dampfmaschine, eine dichte weiße Rauchsäule aus der Öffnung des Bodens hervor. Ganz schroff stürzten rings die nackten Wände in den Krater hinab. Über diesen öden, wilden, toten Vordergrund hinweg saß man einen reizenden Hintergrund. In prächtiger Rundung zog sich rechts der weite Bogen des Golfs von Bajae mit seinen malerischen Küstenformen herum, am meisten vorspringend das steile Cap Miseno, dahinter Procida, dann das mächtige, getürmte Ischia. Im Mittelgrund grad gegenüber auf hohem Felsvorsprung Puzzuoli. Nach der andern Seite, nach Osten, ein ganz entgegengesetzter Anblick, der Lago dŽAgnano in seinem grünen waldigen Uferkranz, dann die wilden nackten Felsberge, die sich dahinger bis zum den hohen Camaldoli hinauf erstrecken. Nahebei mehr rechts der Monte Gauro, links Bagnoli, der Polilip und Nisita.

Nachdem ich von der schönen Landschaft eine Aquarellskizze entworfen (die erste aus Neapels Umgegend) und eine prächtige, große, braunrote Orchidee und ein schönes rotgetupftes, gelbes Helianthemum, die den vulkanischen Boden fast ausschließlich bedeckten, gesammelt, auch auf den Felsen und in den Büschen noch umhergestiegen und ein paar andere hübsche Pflänzchen gefunden, stieg ich in den fast ganz ausgebrannten Krater selbst hinab, sah mir das Ausströmen der Dämpfe aus der Bocca ganz in der Nähe an und ging dann quer hindurch, über einen kleinen Hügel hinweg, nach dem wunderschönen Puzzuoli herab. Hier besah ich zunächsts das sehr wohl erhaltene antike Amphitheater, das 30000 Zuschauner fassen konnte, dann die in antiquarischer und geologischer Beziehung weltberühmten Ruinen des sehr interessanten Serapistempels, an dessen Säulenresten verschiedene, hoch hinaufreichende Überzüge von Süßwasser- und Meeresniederschlägen Kunde von sehr bedeutenden geologischen Veränderungen, wechselnden Hebungen und Senkungen des Bodens geben, und teilweis steht er noch jetzt im Seewasser. Ich nahm verschiedene Proben der Säulenüberzüge und der Wasserbewohner mit, die durch Ehrenberg erst im letzten Jahre analysiert und ganz aufgeklärt worden sind. Von da stieg ich eine Strecke weit die schöne Via Capuana hinauf, dann wieder zum Meeresstrand hinunter, ging ein Stück nach Bajae zu und machte eine zweite Aquarellskizze von Puzzuoli und Umgebung. Am Strand fand ich hübsche Algen und noch lebend eine der größten Nacktschnecken (Alpysia) ausgeworfen, die mir willkommenes Material für den nächsten Tag lieferte. Nachdem ich mit durch ein prächtiges Seebad erquickt, ging ich noch 6 Stunden nach Puzzuoli zürück, von wo ich die 2 1/2 Stunden nach Neapel für 2 Silbergroschen zurückfuhr, nämlich auf dem Deichselsitz einer sogenannten Carottola; zweirädrige, höchst leicht gebaute Einspänner, wie man sie nur hier in Neapel findet. Gewöhnlich sitzen, hocken und stehen 8-10 Personen drauf; sie können aber bis 18 aufnehmen, die sich dann an alle Teile des Fuhrwerks, an Deichsell, Tritt, Lehne, Hinterbrett, Netz unter dem Sitz usw. anklammern, höchst komische und charakteristische Genrebilder, wie man sie nirgends so wiederfindet. Halbgerädert von meinem Deichselsitz, aber höchst vergnügt kam ich um 7 1/2 Uhr wohlbehalten in S. Lucia wieder an . . .


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