Italienfahrt - Ernst Haeckel

Neapel, 9. 5. 1859

Brief Nr. 20

. . . Bestimmter und fester formt sich nun täglich bei mir das Bild unserer glücklichen Zukunft, und energische und konsequenter bemühe ich mich täglich, auf baldige Erreichung dieses seligsten Ziels hinzuarbeiten. Leider entspricht freilich in dieser Beziehung, wenigstens bis jetzt, der Erfolg den Erwartungen nicht; das Bewußtsein, die bis jetzt in Neapel zugebrachten 6 Wochen (abgesehen von den 8 Exkursionstagen) nach Möglichkeit zu fleißiger Arbeit benutzt zu haben, kann mich nicht über den schlechten Erfolg dieses vergeblichen Bemühens trösten, und bald fange ich an, daran zu zweifeln, daß überhaupt etwas Bedeutendes aus allen meinen Anstrengungen hervorgehen wird. Das wenige, was ich bisher gefunden, steht nicht im Verhältnis zu der angewandten Kraft und Zeit, und was das schlimmste ist, ich verliere dadurch ganz den Mut, den Arbeitsplan in dem unternommenen Umfang auszuführen. Bin ich auch in der Kenntnis des allgemeinen so weit Herr des Feldes, um mich in der unendlich reichen, marinen Lebenswelt so ziemlich selbstständig orientieren zu können, so fehlt mir doch ganz das rechte Geschick, um die vorhandenen zahlreichen Lücken der Wissenschaft richtig zu erkennen und auszufüllen. Versuche ich, am Detail eingreifend, in das Einzelstudium mich zu vertiefen, der einzige Weg, auf dem jetzt etwas Tüchtiges zu leisten ist, so tritt der überwältigende Reichtum des Materials, die wunderbar schöne und schwierige Komplikation der Form und andererseits die unverhältnismäßige Mangelhaftigkeit meiner Hilfsmittel, am meisten aber meines Geistes, mir lähmend und entmutigend entgegen: "Mich plagen so viele Skrupel und Zweifel, doch fürchte ich mich weder vor Hölle noch Teufel, doch ist mir dafür alle FreudŽ entrissen, bildŽ mir nicht ein, was Rechts zu wissen, bildŽ mir nicht ein, was Rechts zu lehren, die Menschen zu bessern und zu bekehren!" - Diese und andere Faust-Gedanken verfolgen mich bei meiner Arbeit den ganzen Tag, und lerne ich dabei immermehr die unübertreffliche Wahrheit bewundern, mit der unser größter Dichter in diesem herrlichsten Drama das stete unbefriedigte Streben des lebendigen Menschengeistes, in specie des Naturforschers unserer Tage, gemalt hat, so ist doch dies Vertiefen in diese Gedanken nichts weniger als ermutigend . . .

Freitag, 10. 5. 1859.

. . . Gestern morgen hatten wir an der S. Lucia ein prächtiges Schauspiel. Wir waren früh eben vom Baden zurückgekehrt, als wir sechs mächtige Dampfschiffe nebeneinander am Horizont bemerkten, welche sich rasch näherten und um 9 Uhr hier einliefen. Es waren sechs große Kriegsschiffe der englischen Marine, darunter das größte derselben, "Marlborough", mit 131 Kanonen, eine wahre kolossale schwimmende Festung, gegen die alle andern Fahrzeuge wie schwimmende Zwerge aussahen. Das Schauspiel der Einfahrt in den Golf war ganz prächtig, wie sich die Schiffe, in eleganter Bogenlinie an der Breite des Hafens herumfahrend und sich präsentierend, dann gegenüber der S. Lucia vor Anker gingen und nun die übliche Salutkanonade begann, die, da das Admiralsschiff den Admiral an Bord hatte, besonders glänzend ausfiel. Zuerst feuerte das Admiralsschiff seine mächtigen Salven, dann eines der Schiffe nach dem andern; hierauf wurde das Feuer von den Hafenbatterien, den Kastels und sämtlichen im Hafen liegenden neapolitansichen Kriegsschiffen, Fregatten, zuletzt auch von der amerikanischen Fregatte erwidert. Es war ein prächtiger Anblick, als die mächtigen Dampfwolken sich auf den dunkelblauen Spiegel lagerten und dann langsam und feierlich an den Bergen hinaufstiegen. Gestern und heute habe ich mich nicht genug an dem prächtigen Anblick der im Kreis grade vor der S. Lucia liegenden und von meinem Fenster aus bequem sichtbaren Kriegsdampfer erfreuen können. Heut nachmittag bin ich bei sehr hochgehender See in einer kleinen Barke zwischen ihnen herumgefahren und ihre kolossale Größe von außen bewundert. Wie würde mir das Herz schlagen, wenn das eine deutsche Flotte wäre!! O, Hannibal Fischer! - . . .


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Diese Seite wurde erstellt am 21. Juni 1999.