Italienfahrt - Ernst Haeckel

Brief Nr. 2

Pisa, 16.2.1859.

Jetzt erst, mein bester Schatz, nachdem ich nach einem unruhvollen Tage endlich zur Ruhe gekommen bin und beim herrlichen Licht des vollen Mondes, der mit vollkommener Klarheit freundlich in mein Zimmer scheint, an Dich schreiben kann, jetzt erst fühle ich recht, was ich heute, ohne Dich und ohne unsere anderen Lieben entbehre. Den ganzen Tag über war mir nicht so zumute, als könnte mein Geburtstag sein, und jetzt, wo mir so zumute sein könnte, empfinde ich erst recht, was ich heute in meiner vollständigen Isolierung alles schmerzlich entbehren muß . . .

Eure Gedanken sind heute gewiß ebensoviel bei mir gewesen wie die meinigen in Steinspring und Berlin. Manchmal bekam ich heute solche Sehnsucht, daß ich als Telegramm in die Mark hätte eilen mögen, um auch nur auf ein paar Minuten Dich, liebster Schatz, und die lieben Alten begrüßen und mit Euch plaudern zu können. An solchen Tagen, wo man sich so viel zu sagen hätte, fällt die Trennung besonders schwer. Und doch, wie bitter ich auch den Trennungsschmerz empfinde, wie gern ich alles aufgäbe, nur um bei Dir zu sein, so fühle ich andererseits doch immer mehr, wie heilsam sie zugleich ist und wie sehr sie dazu dient, in das verworrene Konglomerat meiner Ideen, Ansichten und Lebenswünsche Licht, Ordnung und Festigkeit zu bringen. Grade, daß ich gezwungen bin, die Reise ganz allein zu machen, daß alle Mühseligkeiten und alles Unangenehme derselben, mich allein hindurchzuschlagen, die Notwendigkeit, überall selbst mit den Menschen verkehren zu müssen, immer selbst raschen Entschluß fassen und energisch ausführen zu müssen, grade dies ist eine, wenn auch höchst widerwärtige und unangenehme, so doch gewiß grade für mich höchst nützliche und heilsame Schule; und Du würdest Dich mit mir freuen, wenn du sähest, wie die Erfahrungen der ersten 14 Reisetage schon gewirkt haben.

Grade für einen Sinn wie der meinige, der am liebsten nur mit Dir allein in der Natur lebte und im Genusse der Naturschönheiten, im Verein mit Dir, sein höchstes Glück fände, grade für einen solchen ist die Notwendigkeit, auch mit andern Menschen verkehren und in ihre Eigentümlichkeiten sich finden zu müssen, sehr gesund, da man ja doch einmal gezwungen ist, unter und mit den andern Menschen zu leben. Ich habe es Dir schon lange vor der Trennung zu unserem eigenen Troste gesagt, wie sehr mir die Reise allein schon in dieser Beziehung nützlich sein würde, und schon jetzt habe ich viele Beweise dafür, wie wesentlich dieser Einfluß ist. Darum sei guten Mutes und frohester Hoffnung, liebster Schatz, und denke der herrlichen, wonnevollen Zukunft, die unserer später wartet. "Die Sehnsucht und der Träume Weben, sie sind der weichen Seele süß! Doch edler ist ein starkes Streben und macht des schönsten Traums gewiß!" Diese Worte Uhlands habe ich mir heute besonders oft wiederholt und mir fest vorgenommen, das starke, edle Streben, das auch in meiner Seele jetzt nach einem langen, süßen, wonnevollen Traumleben erwacht ist, mit allen Kräften zu hegen und zu pflegen, damit das letztere zu gewisser Wirklichkeit werde . . .

Das viele Böse, Häßliche, Ekelhafte, was hier überall im geselligen Leben mit unerhörter Frechheit schamlos zutage tritt, dem ich anfangs kaum mit passivem Mute zu begegnen wagte, übt jetzt schon eine ganz andere Wirkung auf mein eines gewissen Selbstgefühles bisher nur zu sehr baren Ich aus. Ich lerne mich selbst ein wenig schätzen und fühle stündlich tiefer und fester den ernsten Entschluß, das Leben, das mir doch nun einmal gegeben ist, auch allein zur Förderung des Guten und Wahren anzuwenden, dem Treiben der gewöhnlichen Menschen mit aller Kraft entgegen zu wirken und durch mein eignes Leben zu zeigen, daß man hier höhere Ziele als den bloßen Genuß der Sinnenwelt verfolgen und erreichen kann. Schon allein der unvermeidliche Verkehr mir den frechen, unverschämten, übermütigen Personen, mit denen ein einzelner Reisender überall allein fertig zu werden durch das heilsame "Muß" gezwungen ist, schon dieser allein hat mir in den letzten drei Wochen mehr Gewandtheit, Sicherheit und Festigkeit beigebracht, als ich je vorher besaß, und die beständige Anschauung der in Italien wirklich zu unglaublicher Höhe gediehenen Unsittlichkeit und Unwissenheit, das höchst widerwärtige Treiben der Pfaffen und Mönche ist mir der beste Sporn, eine dem gerade entgegengesetzte Tätigkeit energisch zu beginnen.

Mein Hauptwunsch ist jetzt, möglichst bald an die Arbeit zu kommen, und ich brenne ordentlich darauf, möglichst bald an die See zu kommen und mich so recht con amore in das herrliche Studium der wundervollen Meerestierwelt versenken zu können. In den letzten Tagen hatte ich solche Arbeitssehnsucht, daß ich anfangs zweifelhaft war, ob ich nicht lieber gleich nach Neapel statt nach Rom fahren sollte, und nur der Gedanke, daß ich in diesem Falle die "ewige Weltstadt" wohl nie zu Gesicht bekommen würde, vermochte mich, meinen ursprünglichen Plan beizubehalten.

Meine Arbeitslust ist besonders gesteigert worden durch eine Erfahrung, die mir der Aufenthalt in Florenz gebracht hat. Schon früher, als ich in Jena von meiner Absicht, auf Florenz und Rom 2-3 Monate zu verwenden, sprach und etwas enthusiastisch für Kunst schwärmte, schon damals schüttelten Gegenbaur und Max Schultze etwas den Kopf und meinten, daß das wohl etwas übertrieben sei und daß ich von dieser großen Kunstschwärmerei etwas zurückkommen und zur Natur und ihrem Studium als dem höchsten Kunstwerk zurückkehren werde. Und so ist es in der Tat schon jetzt gekommen, Florenz hat mit allen seinen wundervollen, hochgepriesenen Kunstschätzen wesentlich doch nur den Effekt gehabt, mich zu der Erkenntnis zu bringen, wie unendlich weit alle diese gepriesenen Werke menschlichen Kunstfleißes hinter dem ersten, einfachen Kunstwerk der Natur, hinter dem wundervollen, mit Schönheiten und der höchsten Weisheit des schöpferischen Gedankens überschütteten Bau eines Insekts, eines Wurmes zurückbleiben. Meine Schwärmerei für Gemälde und Statuen schreibt sich noch aus der Periode her, wo ich noch stundenlang vor einer Raffaelschen Madonna oder einem Rembrandtschen Porträt stehen konnte, wo ich aber erst in den Vorhallen der Naturwissenschaft stand. Jetzt, wo ich in deren innerstes Heiligtum eingedrungen bin, wo es mir durch den Unterricht der besten Lehrer, durch die Anwendung unserer vollkommensten Hilfsmittel, vor allem des Mikroskops, geglückt ist, tiefer in das geheimste und verborgendste, an Schönheiten und Wundern aber reichste Leben der Natur einzudringen, weiter darin zu blicken, als den meisten andern Menschen vergönnt ist; jetzt erscheinen mir jene höchsten Erzeugnisse menschlicher Kunst in einem ganz andern Lichte, von ungleich geringerem Wert. Und ist der Verlust, den ich dadruch erleide, daß ich diesen Kunstgenuß der andern Menschen nicht mehr in dieser Art teile, in der Art ein Verlust? Nicht im geringsten! Steht mir doch dafür jederzeit und überall der reichste Urquell höchster Schönheit offen, der mir unendlichen Genuß in jedem Augenblick neu und wunderbar gewährt! Und dieser Genuß ist meine Arbeit, soll meine Lebensarbeit sein! Wahrlich, noch nie habe ich so wie jetzt das Glück empfunden, Naturforscher zu sein! . . .

 . . .Am 16. Februar fuhr ich nach zehntägigem, sehr genußreichem Aufenthalt in Florenz über Lucca, wo ich mich ein paar Stunden aufhielt, um die herrliche Lage der Stadt und ihren schönen Dom zu bewundern, nach Pisa. Hier blieb ich 8 Tage, die besonders mit Besichtigung der schönen Universitätsammlungen und der kirchlichen Bauwerke hingingen. In ersteren wurde ich durch die Professoren Meneghini (Geologie) und Studiati (Zoologie) freundlichst umhergeführt und orientiert.

Die prachtvollen und sehr eigentümlichen kirchlichen Bauwerke liegen alle vier auf dem Domplatz vereint, das runde Kuppelgebäude des Baptisteriums, der seltsame schiefe Turm, zwischen beiden die mächtige Kathedrale und dahinter das berühmte, bilderreiche Campo Santo. Eines Nachmittags besuchte ich auch das großherzogliche Kamelgestüt in den Cascinen, das einzige Institut der Art in Europa. Gegenwärtig leben darin etwa 120 Kamele. Auf einem derselben machte ich einen mehr sonderbaren als angenehmen Spazierritt von 2 Stunden. Die meisten derselben werden zum Lasttragen, zum Transport von Bauholz und Viehfutter benutzt.

Von Pisa fuhr ich nach Livorno zurück, wo ich einen sehr hübschen Tag bei einem deutschen Kaufmann, Herrn Chun aus Frankfurt, verlebte. Dann in 20 Stunden mit einem französischen Dampfer nach Civita vecchia, von wo ich, da leider die Eisenbahn inner noch nicht fertig war, mit einem Vetturin nach Rom fahren mußte (in 15 Stunden), ein Spezialvergnügen, welches ich niemals wieder genießen möchte . . .


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