Italienfahrt - Ernst Haeckel

Brief Nr. 1

Florenz, 7. 2. 1859.

Quest` è la bella Firenze?!

So fragte ich mich heute in einem fort, mein süßer Schatz, und Du würdest mit einstimmen in die verwunderte Klage, wenn Du sähest, was ich alles aufbieten muß, um mir die Existenz nur einigermaßen gemütlich zu machen, wenigstens so weit, daß ich recht mit Lust an Dich, mein süßes Schätzchen, schreiben kann. Da sitzī ich in einem eingen** Stübchen mitten im Herzen der mittelalterlichen Kunststadt; das Feuer prasselt im Kamin und erinnert mich an die liebe Stunde, wo ich mit meinem besten Herzen auch einmal am Ostseestrand in die prasselnde Flamme hineinsah; und doch kann ich kaum warm werden in meinem Pelz, da der eisige Marmorboden mächtig Kälte ausstrahlt und der scharfe, kalte Wind durch die Fugen der Türen und Ritzen der Fenster hindurchzieht, gegen welche der Regen in Strömen anschlägt. Sähe sich irgendein Deutscher aus seinem warmen Stübchen plötzlich in diese Lage versetzt, er würde eher glauben, in England oder am Pontus als in Italien zu sein. Wahrlich, läge nicht viel daran, die Reise in der einmal festgesetzen Art fortzuführen, ich hätte die größte Lust, sie bedeutend abzukürzen; und vorgestern war ich schon darauf und daran, nach Neapel direkt zu fahren und dort gleich recht energisch an die Arbeit zu gehen, um dann recht bald zu meiner süßen Änni zurückzukehren.

Ach mein herziger Schatz, Du weißt gar nicht, wie Du mir fehlst! "Du hast die Seele mein so ganz genommen ein, daß sie gar nichts mehr liebt als Dich allein" - so, lieber Schatz, sinne und denke ich den ganzen Tag. Aber wie hast Du mich auch verändert! Ich kenne mich wirklich selbst nicht mehr! Wenn ich daran denke, wie ich früher reiste, mit welchem raschen Eifer und welcher unermüglicher Ausdauer ich alle die großen und kleinen Genüsse und Gelegenheiten der Reise auszubeuten versuchte - und wenn ich dann vergleiche, wie gleichgültig ich jetzt dagegen bin, so erschrecke ich wirklich vor mir selbst. Bei allem, was ich sehe und kennen lerne, ist Anna immer mein erster und einziger Gedanke; ist es so groß und so schön, daß ich mich darüber recht freuen möchte, so mischt sich gleich der bittere Schmerz darein, daß mein besserer Teil es nicht mit genießt; befriedigt es mich weniger, so bin ich traurig über die verlorene Zeit, die ich so schön bei Dir zubringen könnte. Ach lieber Schatz, daß ich Dich über alle Menschen lieb hatte, das war mir schon lange klar geworden; daß aber auch alle Lust und Freude am Schönen und Großen der Natur und Kunst ganz vor Dir in den Hintergrund tritt, das habe ich bisher selbst noch nicht geglaubt! Und darum andererseits wie gut, daß ich diese Reise machen muß. Gewiß wäre ich sonst nie so zu diesem seligen Bewußtsein gekommen, ein Glück zu besitzen, das alles, alles andere verdrängt und ersetzt! Ach mein Liebchen, wie unendlich glücklich können wir werden, wenn ich gesund und mit glücklichem Erfolg meiner Arbeiten zurückkomme und dann bald meine kleine Frau Professor heimführe! . . .

Ach Schätzchen, Du würdest die ganze Größe unseres Glückes gegenüber dem der allermeisten anderen Menschen auch erst erkennen lernen, wenn Du einen Blick tun könntest in das furchtbare, physisch** moralische Elend, in dem die Majorität der Gesellschaft befangen ist, und welches hier in Italien mit einer frechen Schamlosigkeit an den Tag tritt, die wirklich eine deutsche ehrliche Seele erschrecken kann. Wie elend und jämmerlich ist doch dieses Streben und Leben der meisten Menschen; hier kann man es besonders darum in seiner ganzen schauerlichen Verworfenheit sehen, weil es ganz ungescheut überall offen sich darlegt. Familienleben ist hier so gut wie unbekannt. Die Töchter werden in einem Kloster erzogen und dann nolens volens einem wildfremden Manne angetraut! Was Wunder, daß da eheliche Treue so gut wie unbekannt ist, man es ganz in der Ordnung findet, daß sich beide Ehegatten ihre besonderen Gesellschaften halten! Wie glücklich sind dagegen doch unsere deutschen Zustände. Kann es ein höheres Glück geben als das unseres deutschen Familienlebens? Ach Liebchen, mir klopft das Herz vor Freude, wenn ich denke, welchem seligen Zusammenleben wir entgegengehen; wie diese Harmonie der Seelen jede Äußerung ihres Lebens erheben und verschönen wird. Wie anders sind mir alle die kleinen Naturgenüsse wert, die ich mit Dir zusammen erlebt, wie ganz anders als selbst die größten und schönsten, die ich allein genossen und bei deren Genuß mir der ungleich größere des Widerhalls der Gefühle in der gleichgestimmten weiblichen Seele fehlte! Ach Liebchen, könnte ich Dich nur hier haben, mit welcher Lust und Freude wollte ich all das ansehen, was ich jetzt nur mit halb offiziellem Touristenauge betrachte. Die herrlichen Originale des Laokoon, der Niobe-Gruppe, der Mediceischen Venus usw., die ich heute hier gesehen, wollen mir lange nicht so gefallen als die Gipsabgüsse davon, die ich mit Dir zusammen im Neuen Museum gesehen, wo ich in Deinem für alles Schöne, Wahre und Große offenen Sinn den schönsten und reinsten Widerklang der Gedanken und Gefühle fand, die das eigene Herz bei diesem Anblick bewegten . . .

Dienstag, den 8. 2., brachte ich den ganzen Vormittag in dem berühmten Palazzo Pitti hin, der jetzigen Residenz des Großherzogs, welche eine Gemäldegalerie enthält, die sehr berühmt ist und von Kunstkennern derjenigen in den Uffizien gleichgesetzt wird. Mir gefiel sie jedoch bei weitem weniger. Es sind fast nichts als die verschiedenen Heiligengeschichten in Hunderten von Exemplaren dargestellt, für welche ich nicht die mindesten Sympathien habe. Mögen die Namen der Maler auch noch so berühmt, ihre Technik und Naturtreue noch so groß sein - wenn der Gegenstand selbst mir gleichgültig oder gar widerwärtig ist, so liegt mir am ganzen Bilde wenig.

Ganz abscheulich finde ich namentlich alle die berühmten Martergeschichten, und diese Märtyrer sind gerade das Hauptkontingent der Bevölkerung. Ebenso kann ich mich auch in den Madonnenkultus nimmermehr hineinfinden. Diese ganze Richtung der christlichen resp. katholischen Kunst ist mir gänzlich unverständlich und somit gleichgültig. Meine Lieblingsbilder, Naturansichten, Landschaften, gibt es hier fast gar nicht . . .

Am besten hat mir von allen Bildern der Galerie Pitti Murillos Madonna con figlio gefallen, die schönste natürlichste Darstellung einer glücklichen Mutter, deren Mutterliebe den holden Jungen auf ihrem Schoß voll Freude ganz überstrahlt: ein ebenso wahres als einfaches und natürliches Bild, von dem ich aber gerade darum nicht weiß, warum es partout eine Madonna sein muß und nicht ebensogut eine andere Mutter mit ihrem Menschenkind, wie es deren doch Gott sei Dank so viele gibt . . .

Den Nachmittag brachte ich mit Besichtigung des Domes und der gegenüberliegenden Taufkirche hin. Letztere, das Baptisterium, ist namentlich berühmt durch seine Erzgußtüren von Ghiberti, die halb das Leben Christi, halb die Genesis darstellen, und von denen Michelangelo sagt, daß sie wert seien, die Pforten des Paradieses zu schücken.

Die Taufkirche selbst ist ein wunderbarer Kuppelbau, in dessen Inneres so wenig Licht fällt, daß man von den berühmten Gemälden und Skulpturen darin so gut wie nichts sieht. Dagegen hört man darin um so besser das Geschrei der zahlreichen Kinder, welche beständig hier der Taufe unterworfen werden. Alle Neugeborenen von Florenz werden hierher gebracht, damit ihre Seele durch einige lateinische Zaubersprüche den Krallen des Teufels entrissen werde. Die Mechanik dieses Prozesses, das gedankenlose Ableiern der lateinischen Gebete, das Geschrei der immer frierenden Säuglinge, die Rührung der Mütter und andere Verwandten sowie die Art, wie der dicke Pfaffe das Kind anspuckte und ihm eine Oblate in den Mund steckte und die Routine, mit der dies alles abgemacht wurde, erinnerte mich lebhaft an manche poliklinische Prozesse in Würzburg . . .


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