Italienfahrt - Ernst Haeckel

Rom, 28. 2. 1859.

Brief Nr. 3

Schon eine Woche bin ich nun in Rom und noch immer bin ich nicht dazu gekommen, Dir die ersten Eindrücke zu schildern, mein herziger Schatz, die die ewige Weltstadt auf mich gemacht hat. Du kannst aus diesem Schweigen selbst schon entnehmen, wie mächtig sie gewesen sind. Erst jetzt komme ich allmählich dazu, oder vielmehr, kann erst anfangen, diese so verschiedenartigen großen und wunderbaren Bilder einigermaßen zu ordnen, zu beherrschen und zu assimilieren.

Der erste Eindruck war nicht so, wie ich erwartet hatte; ich hatte mir Rom im ganzen antiker, auch von seiner Außenseite schöner und in mancher Beziehung größer gedacht. Aber mit jedem Tage lerne ich, fühle ich mehr, wie groß und antik die erhabene Stadt trotz allen modernen Entstellungen und Verschlechterungen dennoch immer bleibt und welch eine unerschöpfliche Fundgrube der edelsten Kunstgenüsse aller Art hier verborgen liegt.

In den ersten Tagen sieht man hier so viel Neues, Großes, Merkwürdiges aus jedem Gebiete der bildenden Kunst, so viel geschichtliche Reminiszenzen aller Art aus den verschiedensten Zeitaltern, daß man sich von ihrer Extensität wahrhaft überwältigt fühlt, erst allmählich eine nach der andern sich aneignen und nutzen kann. Die Masse des Großartigen und Schönen, die hier überall den Fremden überrascht, ist so überwältigend, daß ich vorläufig ganz darauf verzichten muß, Euch auch nur eine skizzenhafte Schilderung alles einzelnen zu geben. Vielleicht kann ich es später nachholen. Vorläufig kann ich Euch nur von dem allgemeinen Eindruck schreiben und werde kurz immker wenigstens eine Übersicht oder Aufzählung alles dessen beifügen, was sich an den einzelnen Tagen gesehen.

Was mich vor allem entzückt hat, ist das klassische Altertum, welches hier großartiger, vollständiger und klarer zutage liegt als irgendwo sonst. Besonders sind es meine Lieblinge, die Griechen, welche ich hier durch ihre wundervollen, zahlreichen Meisterwerke der bildenden Kunst (denn auch alle schönen römischen Kunstwerke waren ja nur Nachbildungen der Griechen) in ihrer ganzen Größe, Schönheit und Naturwahrheit begreifen und erfassen lerne, und wenn es möglich wäre, noch mehr lieben, als vorher. Die wirklichen Wälder der herrlichsten Marmorstatuen, die man hier überall gesäet findet, haben mich in einen wahren Taumel des Entzückens versetzt, bei dem weiter nichts fehlte zur Seligkeit, als daß Du, liebster Schatz, sie mitgenossen hättest. Auch die Reste der kolossalen römischen Bauten, die Tempel, Paläste, Triumphbogen, Säulen usw. auf dem Forum sind überaus großartig und wirklich wunderbar gewaltig. Natürlich tragen die zahllosen interessanten, historischen und mythischen Remininiszenzen nicht wenig dazu bei, allem diesem erhöhtes Interesse und neuen Reiz zu geben.

Während mich diese antike Seite Roms, das griechisch-römische Altertum, im höchsten Grade entzückt und mehr angeregt und überwältigt hat, als ich je gedacht hätte, so hat mich dagegen eine andere, nicht minder reiche Seite Roms, das Mittelalter mit seinen massenhaften Kunstschöpfungen, namentlich aus der Malerei und Baukunst, was die meisten Leute hier mehr als das Altertum anzusprechen und zu beschäftigen pflegt, relativ kalt gelassen. Alle diese ungeheuren Mengen von Bildern aus der christlichen Mythologie, denen man hier überall in Haufen begegnet, diese 10000 Madonnen und 100000 verschiedenen Heiligen mit ihren Wunder- und Märtyrergeschichten sind mir in toto sehr gleichgültig geblieben. Ich weiß nicht, worin es liegt, und muß mir die Gründe erst noch klar bewußt werden, aber faktisch ist es, daß die Skulptur hier mein ganzes Interesse in ungleich höherem Grade fesselt als die Malerei. Schon in Florenz war mir dies klar geworden. Zum Teil mag meine rein naturalistische Richtung daran schuld sein, zum Teil der Widerwille, der jeden aufrichtigen und natürlichen Menschen, wenigstens jeden ehrlichen Naturforscher, hier gegen alles das erfüllen muß, was die Leute hier Christentum zu nennen pflegen. Es ist schmählich, das Blendwerken tollsten Aberglaubens, pfäffischen Despotismus, katholischen Gewissenzwangs den Namen einer Religion beizulegen, die in ihren idealen Fundamenten so rein und edel, so natürlich und echt menschlich ist wie die christliche, welche, meiner Ansicht nach, nach Abzug alles dogmatischen Unsinns mit dem Humanismus oder dem ursprünglichen Buddhismus oder jeder anderen wahren Naturreligion zusammenfällt. Gewiß muß der Aufenthalt in Rom jedem aufrichtigen Naturmenschen von gesundem Verstande eher zum Heiden als zum Christen machen, und wenn ich nicht schon durch die ins Tiefste und Feinste der Natur eindringenden Studien der letzten Jahre dem sogenannten Christentum der Theologen ganz entfremdet wäre, hier in Rom wäre ich sicher zum Heiden geworden. Wer kann da in der Wahl ncoh zweifelhaft sein - auf der einen Seite dieses edle, reine, klassische Altertum der Hellenen mit seinem wahren Naturalismus und schönen Humanismus, mit dem Streben nach Erkenntnis, Wahrheit und Vollkommenheit - auf der andern eine systematisch ausgebildete Hierarchie, die alles aufbietet, um unter dem Titel von Religion die Menschen in niedrigster Unwissenheit und schmählichstem Aberglauben, in knechtischer Geistesherrschaft und unfreiem Gewissenszwang zu erhalten, der kein Mittel zu schlecht ist, um ihrem sogenannten heiligen Zweck zu dienen, und die in ihrem ganzen System ebenso verwerflich als in dessen Anwendung widerwärtig ist . . .


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Diese Seite wurde erstellt am 21. Juni 1999.