Italienfahrt - Ernst Haeckel

Neapel, 24. 4. 1859

Brief Nr. 16

. . .  Das schlechte Wetter, welches mir die beiden vorletzten Wochen verdorben hatte, hielt auch in der letzten noch an und wurde nur noch schlimmer; und nirgends ist schlechtes Wetter weniger am Platze als hier! Für mich in specie ist es noch besonders schlimm, denn nicht nur hinderte der Regen und Sturm jede weitere Exkursion, sondern er vertreibt mir auch alle Tiere, die bei solchem schlechten Wetter weit ins Meer hinaus oder in die Tiefe gehen. Auch die Fischer bringen dann nichts. Das Mikroskopieren geht schlecht wegen des trüben Lichts. Was aber das schlimmste ist, der Sirokko, den ich in dieser letzten Woche in seiner ganzen Störke habe kennenlernen, übt eine so lähmende, herabstimmende, vernichtende Wirkung auf das Nervensystem aus, daß nicht viel fehlt, um einen echten englischen Spleen zu bekommen. Schlimm genug, daß mir das nervöse Erbteil von der guten Mutter für diese Depressionen eine besondere Empfänglichkeit verleiht, die ich durch energischen Willen zwar etwas herabsetzen, aber nicht neutralisieren kann. Du glaubst nicht, wie entnervend dieser böse Wind einwirkt. Als ich vor einigen Tagen morgens das Fenster öffnete, kam mir statt der gewohnten Kühle, die hier an der See besonders angenehm ist, ein heißer, erstickender Brodem wie aus einem Backofen entgegen. Ich schloß sogleich wieder den Balkon, aber der heiße, afrikanische Gluthauch brach sich auch durch die Ritzen der geschlossenen Türe Bahn, und nach ein paar Stunden war es drin fast so mattheiß wie draußen. Ich konnte beobachten, wie dadurch von Stunde zu Stunde das Nervensystem mehr deprimiert und erschlafft wurde. Das angestrengte Arbeiten war mir bald unmöglich, und trotzdem ich mit möglichster Konsequenz hinter dem Mikroskop sitzen blieb, so half das doch nichts, denn ich war fast keines vernünftigen Gedankens mehr fähig und schlief zuletzt nolens volens beim Mikroskopieren selbst ein. Die Neapolitaner machen sich´s da freilich bequemer, indem sie sich dem Sirokkoschlaf freiwillig überliefern. Aber auch sie sind dann noch fauler und nichtswürdiger als sonst und tun rein gar nichts. Die Fischer, die den Sirokko sehr fürchten, gehen nicht einmal heraus fischen.

So habe ich denn diese ganze Settimana santa (wie die Karwoche hier heißt) recht nutzlos und dürftig verlebt und war mit dem Abschluß sehr unzufrieden. Nur am ersten Tag erhielt ich recht hübsche Tiere, große und seltene Echinodermen, die mich mehrere Tage beschäftigten. Die folgenden war ich darauf angewiesen, die Algen zu untersuchen, die mir der Südsturm an den Strand geworfen hatte. Es war aber wenig Brauchbares darunter. Indes bin ich nun durch diese dreiwöchentlichen Studien wenigstens wieder in die alte Arbeitsmethode, in den "Zug", wie man sagt, hineingekommen und hoffe, daß es mir in den nächsten Wochen besser gehen wird. Besonders hoffe ich durch die Fischerei mit dem feinen Netz, wobei man nach Johannes Müllers Methode die glatte Meeresoberfläche abfischt, schöne Sachen zu bekommen. Das schlechte Wetter hinderte bisher jede Probe und heute erst konnte ich den ersten Versuch machen, der mich schon einigermaßen über den erstaunlichen Reichtum des hiesigen Meeres an interessanten niedern Tierformen, Larven von Radiaten und Krustaceen, Mollusken usw., belehrte. Dieser Fund, den ich heute schon um 5 Uhr, gleich nach dem Aufstehen, machte, diente wenigstens dazu, meine trüben Gedanken etwas festgemäß aufzuheitern und gab ihnen mit Betrachtung der reizendsten niedern Tierchen eine angenehme Beschäftigung . . .

Um Mittag lockte heute die neuerstandene Sonne so mächtig ins Freie, daß ich nicht widerstehen konnte, einen kleinen Spaziergang an die Chiaja zu machen und mir Neapel im festlichen Feiertagsgewand anzusehen. Ich ging auf den Romero, einen hochgelegenen Stadtteil im Nordwesten, und wurde auch durch herrliche Blicke auf Meer und Gebirge belohnt. Die Stadt selbst ist aber so schmutzig und häßlich wie sonst und die Bevölkerung nahm mich nicht mehr ein als an den Wochentagen; sie schien eher noch lauter, toller und frecher zu sein. Zufällig kam ich grade auf den Largo Antignano, als dort die größte Feierlichkeit des Ostertags begangen wurde. Der ganze Markt und die angrenzenden Straßen waren dicht mit Menschen vollgespfropft, unter denen viele Landleute mit malerischen Trachten (doch nicht entfernt mit den Leuten aus Rom und Umgegend zu vergleichen). Mitten durch die dichten Volksmassen war eine breite Gasse gebahnt, in der rote Schweizergarde mit Bärenmützen Spalier bildete. In dieser kamen sich zwei große Prozessionen einander entgegen gezogen, darin kolossale Puppenbilder von Christus, Maria und den Aposteln vorangetragen wurden, die sich gegenseitig Visite machten. Auf ein gegebenes Zeichen wurde zuletzt die scheußlich buntbemalte Christusstatue im Trab rasch einen Abhang hinunter gegen die Marienpuppe hingetragen, worauf der Rock derselben plötzlich abfiel und eine Menge Vögel (Drosseln) darunter hervorflogen. Auf diese Weise wird dem Volk hier das Kommen des Heiligen Geistes sinnbildlich klargemacht. Am widerwärtigsten bei dem ganzen Schwindel waren die Massen ekelhafter Pfaffengestalten, die sich überall breitmachten. Die ganze Zeremonie hatte übrigens nicht das mindeste Feierliche an sich und machte nur den Eindruck einer groben Possenreißerei. Auch am Gründonnerstag und Karfreitag wurde das geistliche Possenspiel hier arg getrieben. In allen Kirchen waren Szenen mit Christi Tod und Auferstehung in kolossalen Puppenfiguren, mit viel buntem Pomp und Putz aufgestutzt, aufgestellt, denen die Menge ihre abgöttische Verehrung durch Küsssen der großen Zehe usw. bezeugte. Das beste an diesen beiden Tagen war, daß gar keine Wagen fahren durften, und die Physiognomie der Stadt war dadurch sehr angenehm verändert. Lautlose Stille war mit einemmal an die Stelle des sonst unaufhörlichen Rädergerassels, Pferdegetrappels, lauten Knallens, Schreiens und Fluchens getreten . . .

Für Deinen lieben letzten Brief, mein bestes Herz, den Du dem von Vater anhängtest, besten Dank. Was Du über die Klarheit, Ruhe und Stetigkeit sagst, zu der die brausenden Wogen unserer leidenschaftlichen Liebe sich glätten müssen, ist mir auch in den letzten Wochen, wo ich so traurigen Sinnes war, viel im Sinn gelegen, und ich habe mir fest vorgenommen, das wilde Ungestüm und die jugendliche Unbändigkeit zu zügeln, ohne daß deshalb die innige, feste Tiefe unseres unauflöslichen süßen Seelenbandes etwas zu verlieren braucht. Gewiß soll Dir Italien Deinen Erni auch in dieser Beziehung viel besser zurückgeben . . .


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