Italienfahrt - Ernst Haeckel

Neapel, 18. 4. 1859

Brief Nr. 15

Ein wahres Glück, liebster Schatz, daß ich nicht, wie ich anfangs beabsichtigte, schon in den vorigen Tagen zum Schreiben gekommen bin. Du würdest da einen recht traurigen, melancholischen Brief erhalten haben. Heute ist da aber durch Deinen


600 x 943 dpi


lieben Brief so ein lichter, heiterer Sonnenstrahl in das bedrückte, düstere Gemüt gefallen, daß er unwillkürlich auch in dieser unmittelbaren Antwort sich etwas reflektieren muß und Dir Deinen Erni in etwas froherem Lichte erscheinen läßt, als er eigentlich jetzt zeigen kann. Auch ist es heute zum erstenmal mit dem Arbeiten etwas flotter gegangen, ich habe dazu heut zum erstenmal recht hübsche Tiere bekommen, so daß die düstere Schilderung, die ich Dir eigentlich von dem Leben der letzten Woche zu machen hätte, wesentlich gemildert wird. Und doch kann ich Dir nicht recht froh und heiter schreiben und muß Dir mein von Heimweh und Liebessehnsucht übervolles Herz etwas ausschütten, um es für die nächste Woche etwas zu erleichtern. Habī Dank, liebster Schatz, daß Du selbst immer so guten Muts bleibst und so vertrauensvoll in die Zukunft siehst; sonst würde mir meine jetzige Lage und die nächste Zukunft doppelt schwer. Wenn ich aber, wie wieder in dem heutigen Brief, sehe, wie munter und tapfer Du Duch hälst und mich orgentlich beschämst, so nehme ich mich wieder von neuem zusammen und gehe mit frischer Kraft und Lust an das begonnene Werk.

Schon in meinem letzten, vor acht Tagen abgeschickten Brief, schrieb ich Dir, wie schwer es mir würde, mich hier einzugewöhnen und an das hiesige, so durch und durch undeutsche Leben zu akkomodieren. Fast scheint es, es sollte das mit der Dauer des Aufenthaltes eher zu- als abnehmen. Wenigstens kömmt es mir vor, als sei mir diese dritte Woche noch viel schwerer als die beiden ersten geworden. Wirklich habe ich mich selten irgendwo so schwer eingelebt. Neapel steht mir trotz aller seiner Herrlichkeit noch so kalt und fremd gegenüber wie am ersten Tage, und wenn ich bedenke, wie bekannt und heimisch ich dagegen in Rom schon in den ersten Wochen war, so fällt mir der Unterschied bedeutend auf. Allerdings führe ich hier auch ein ganz verschiedenes Leben. Während ich dort den ganzen Tag umherstrich und in der Abwechslung der reichsten Kunstgenüsse nie übersättigt wurde, mit allem persönlich genaue Bekanntschaft machte, ist mir dagegen hier alles fremd geblieben und ich sitze in meinem kleinen Studierstübchen so eng eingeschlossen und isoliert wie die Gefangenen drüben im Castel dellī ovo, und der Arbeitsdrang läßt mir auch keine Ruhe, um viel hinaus zu gehen und die reizende Natur zu genießen, die mich rings umgiebt. Obwohl ich aber nun schon 14 Tage so in einem Strich ununterbrochen weg gearbeitet habe, so habe ich doch noch nichts von der Ruhe und Befriedigung gefunden, mit der ich mich sonst in die Lieblingsarbeiten ganz versenkt habe. Eine fieberhafte Unruhe drängt mich vorwärts und lebhafte Ungeduld treibt mich an, eine größere, zusammenhängende Arbeit anzufangen. Und doch habe ich in diesen zwei wochen trotz angestrengter Mühe so gut wie nichts zustande gebracht und könnte wirlich in Versuchung kommen, mutlosem Kleinmut mich hinzugeben. Nicht einmal ein bestimmtes Thema habe ich mir schon stellen können und habe mich bisher begnügen müssen, das kleine, gemischte Volk zu untersuchen, das mir grade in bunter Gesellschaft in die Hände fiel. Noch habe ich bisher keinen Fischer auftreiben können, der selbst durch gute Bezahlung zu vermögen wäre, seinen echt neapolitanischen Hand zur Faulheit und Indolenz so weit aufzugeben, daß er mir kontinuierlich Material zur Arbeit brächte. Ich habe mich in den wenigen Wochen sehr tüchtig mit dem elenden Volk herumgeärgert und gezankt und einsehen gelernt, wie schwer es ist, mit ihm fertig zu werden. Wie anders waren da unsere Fischer in Helgoland und Nizza, welche letzere namentlich uns immer reichlichst mit Material versahen. Doch möglich, daß sich das auch hier mit Zeit einrichten läßt. In dieser wie in vieler anderer Beziehung empfinde ich jetzt recht oft, was für ein Unterschied es ist, eine solche Expedition allein oder in Gesellschaft zu unternehmen, und wie sehr dem einzelnen so vieles erschwert wird. Allerdings mag es auch grade für meinen weichen Charakter recht gut sein, sich durch alle diese Unannehmlichkeiten allein hindurcharbeiten zu müssen und so gehärtet und gestählt zu werden.

Mehr noch habe ich die Gesellschaft Johannes Müllers und Köllikers, die mir den Aufenthalt in Nizza und Helgoland so angenehm machte, bei der Arbeit selbst vermißt. Unser Arbeitsreich ist so groß, die Masse des Materials so überwältigend, daß es selbst dem Erfahrenen schwer wird, sich zu orientieren, und obwohl ich schon damals außerordentlich viel von jenen trefflichen Lehrern gelernt hatte, so sind doch auch viele große Lücken geblieben, und ich stehe oft vor einem mir schlecht bekannten Gegenstand recht ratlos da und muß auf weiten Umwegen eine lange, mühsame Untersuchung anwenden, um eine Antwort über das zu bekommen, was mir sonst eine einfache Frage an die bewanderten Lehrer aufrgeklärt hatte. "Aller Anfang ist schwer" - und "nur Beharrlichkeit führt zum Ziele" - das sind die beiden Sprichwörter, die ich mir unzähligemal wiederhole und wobei ich mir das Bild meiner mit unermüdlicher Ausdauer begabten, trefflichen Lehrer, Johannes Müller, Virchow, Kölliker, vor die Seele rufe, wenn ich oft nach stundenlanger Arbeit zur Einsicht komme, daß ich mich vergebens abgequält habe, und wenn dann die Geduld davon laufen will.

Und dann ist nach eine andere, mächtigere Triebfeder, die immer wieder den sinkenden Mut von neuem belebt. Das ist die grenzenlose Liebe zu Dir, mein bester Schatz, und der beglückende Gedanke, alles dieses zugleich für Dich zu tun und durch diese Arbeiten den Grund zu unserer glücklichen Zukunft zu legen. Wie oft tritt Dein liebes Bild beruhigend, tröstend, aufheiternd vor meine Seele, wenn der Unmut, die Ungeduld sie ganz fortreißen wollen. Da sehe ich recht, wie mich auch in dieser Beziehung der beglückende Besitz Deiner edlen, lieben Seele selbst bessert und veredelt. Meine ganze Zukunft hat dadurch ein festes Ziel, eine bestimmte Richtung bekommen, deren sie sonst wohl noch lange entbehrt haben würde; und meine ganze Arbeitskraft wird dadurch konzentriert und auf jenes bestimmte Endziel hingelenkt. So ist es mir schon mehreremal jetzt gelungen, mit fester Konsequenz und geduldiger Ausdauer etwas durchzuführen, wozu ich früher mich nie selbst vermocht hatte. Ich brauche nur Dein leibes, süßes Bild, den besten Antrieb zu allem Schünen und Guten, mir vor die Seele zu rufen, um neue Kraft zu schöpfen und den sinkenden Mut neu zu beleben. Solche außerordentliche Triebfedern sind aber um so mehr nötig, als ich täglich, je mehr ich wieder in die alten, gewohnten Arbeiten hineinkommen, mehr sehe, wie ich durch das fast zweijährige Intervall (seit meiner Krebsarbeit habe ich eigentlich nicht mehr eine ordentliche zootomische Arbeit vorgenommen) aus denselben herausgekommen bin und wieviel Anstrengung es kosten wird, mich wieder so ganz hineinzuleben. Wie unendlich oft wünsche ich Dich täglich während der Arbeit an meiner Seite, um mir durch ein liebes Wort, Dein frohes, munteres Gesicht, einen herzigen Kuß, neuen Mut und Kraft einzuhauchen, und ein Blick auf Dein liebes Bild muß mir dann wenigstens den Anblick der fernen Geliebten in etwas ersetzen. Schon früh am ersten Morgen begrüßt es mich, und beim Kaffeetrinken, wo ich mir die wirklich recht gut getroffene schöne Photographie immer neben mich setze, leistest du mir immer die liebste, herzigste Gesellschaft.

Ach liebe Änni, wie oft mögen sich so täglich unse beider Gedanken begegnen! Recht oft muß ich auch denken, wie reizedn das wäre, wenn Du hier wärest und mir mit bei meinen Arbeiten helfen könntest. Grade beim Mikroskopieren sind so viel kleine mechanische Arbeiten, die einem das Frauchen abnehmen und sie besser kann als der Mann selbst, wie Du mich ja schon in Berlin mit dem Reinigen der Gläschen so treulich unterstützt hast. Hier geht diese Arbeit ins große und kostet mich, nebst dem Waschen der großen Gläser, dem Präparieren und Ordnen der Instrumente usw., täglich ein paar Stunden, die mein lieber Schatz mir gewiß gern ersparen würde. Auch sonst kommen ja so mancherlei kleine Beschäftigungen täglich vor, die eigentlich in das Gebiet der Hausfrau fallen, die ich aber hier alle selbst machen muß. Da tröste ich mich denn immer mit dem Gedanken an eine schöne Zukunft, wo ich mit meinem kleinen, leiben Frauchen Arbeit und Genuß in den Ferienreisen an dem Meeresstrand teilen werde, wo ich sie auch in die reizende, reiche Wunderwelt des Meereslebens einführen werde. Wie viel schöner wird das dann sein! Gewiß wird dann auch die Studierstube hübscher, reinlicher und ordentlicher aussehen als jetzt hier, wo ich manches etwas bunt durcheinander gehen lassen muß, da der Raum sehr beschränkt ist, die Masse Bücher, Instrumente, Tiere usw. sehr groß, und da ich gezwungen bin, mir alles selbst zu besorgen. Nach den Begriffen, die die Italiener von Reinlichkeit haben, ist es ganz unmöglich, sie zu bewegen, Kleider zu putzen, Trinkgläser, Waschbecken usw. zu reinigen, Stuben zu kehren usw. Soll das alles geschehen, so muß man es selbst tun. Ebenso muß ich mir z. B. mehrmals täglich Meereswasser holen, wozu ich mir zwei große Eimer gekauft habe. Auch Licht, Brot, Butter, überhaupt alles, was zum Leben täglich gehört, muß ich mir selbst holen, werde dabei natürlich als "forestiere" meist tüchtig übers Ohr gehauen, obschon ich sonst schon ziemlich erfahren in diesen Schwindeleien bin. Diese unvermeidliche Betrügerei der "forestieri" geht hier so weit, daß man bei allem, selbst beim Kaffee im Caféhaus, beim Billetverkauf auf dem Dampfschiff, wenigstens die Hälfte oder den vierten Teil abhandeln muß . . .

Glücklicherweise gibt es wenigstens zwei Handelsartikel, die einen festen Preis haben; das sind gekochte Eier und kleine runde Brötchen, deren jedes 1 Groschen kostet, und die ich mir täglich morgens zu 2-3 einkaufen gehe, um damit meinen Magen bis zum Abend, wo er die einzige Tagesmahlzeit erhält, zu beschwichtigen. Das einzige, was außerdem einen festen Preis hat und sehr billig ist, sind die Droschken, die auch die weitesten Fahrten in der Stadt immer nur 1 Carlin (3 Silbergroschen 4 Pfennige) fordern dürfen. Mir kommt das natürlich nicht zustatten, da ich doch immer grundsätzlich zu Fuß gehe, wodurch ich mich freilich in den Augen der Neapolitaner, die Fußgehen für eine Schande halten, ungemein herabsetze. Für unser Mutterchen wäre aber diese herrlichen Droschkeneinrichtung wie geschaffen, und ich muß oft daran denken, wie gründlich sie das benutzen würde. Dementsprechend ist auch die Zahl der Wagen sehr bedeutend, und sie tragen bei dem sehr schnellen Trab, den sie fahren, und dem beständigen Knallen, Schreien, Toben, womit sie die Pferde dirigieren und die Fußgänger aus dem Weg treiben, nicht wenig zu dem tollen Lärm bei, der hier überall herrscht und für Neapel charakteristisch ist. Die ruhigsten Gespräche werden im Haus wie auf der Straße in einem so lauten, leidenschaftlich aufgeregten Tone geführt, als zankten sich die Leute heftig, und dies verursacht, im Verein mit dem Brüllen der Verkäufer, Ausrufer und dem lauten, vielfachen Schreien der tausend verschiedenen Tagediebe, die hier überall umherlungern, auf allen Straßen einen beständigen Lärm und Skandal, der im Anfang höchst störend ist und an den schwache Nerven sich nur schwer gewöhnen können. Das Maximum erreicht dies bunte, laute Treiben auf dem Toledo, der sehr engen, ganz außerordentlich belebten Hauptstraße, deren buntes, bewegliches Leben selbst von den frequentesten Straßen in London, Neuyork usw. nicht übertroffen werden soll. In jedem Hausse ist hier, bis in die obere Etage, Laden an Laden, Kneipe an Kneipe, und auf jedem Punkt herrscht ein so lebendiger, bunter Verkehr, daß man sich auf einer Messe oder einem Jahrmarkt zu befinden glaubt.

Hübsch ist übrigens die Stadt im Innern nirgends; im Gegenteil haben die äußerst engen und schmutzigen Straßen mit den schmalen, 6-7 Stock hohen Häusern etwas sehr Abschreckendes, Düsteres, und die Nebengäßchen sind wahre Labyrinthe. Ein großer Teil der Stadt ist so steil am Berge hinaufgebaut, daß man nur auf weiten Umwegen hinauffahren kann. Der schönste Teil ist der Teil des Strandes, der sich an die S. Lucia, wo ich wohne, anschließt, über Chiaja, die sich in weitem Bogen bis zum Posilipp hinzieht. Die Aussicht über den ganzen Golf und den gegenüberliegenden Vesuv ist hier überall prächtig, und doch möchte ich auf die Dauer diese Schönheit nicht befriedigend finden und z. B. Salzburg, Heidelberg vorziehen. Überhaupt hat mich alle diese Pracht bis jetzt noch ziemlich kalt gelassen, wenigstens nicht so entzückt, als ich erwartet hatte, wozu allerdings einerseits das (jetzt seit zwei Wochen) andauernd schlechte Wetter, andererseits die Mißstimmung beitragen mag, in die man durch die vielerlei unangenehmen Erlebnisse des täglichen Lebens gerät. Aber soviel man auch für die prachtvolle südliche Natur Neapels, die in ihrer Art wirklich wunderbar schön und eigentümlich ist, sagen mag, auf die Dauer würde ich unsere nordische Natur immer weit vorziehen. Unsere vollen, dunklen Wälder und das lichte Grün der weiten Wiesenflächen vermisse ich gar sehr, und wenn ich nun gar erst an die Alpen denke, besonders an die geheimsten, nur von wenigen bekannten Schönheiten der höchsten Gletscherwelt, so verschwindet hinter dieser alles andere, und selbst das göttliche Meer muß, in meiner Seele wenigstens, diesen erhabensten Anschauungen nachstehen.

Du siehst, liebster Schatz, daß ich in dem gepriesenen Süden die warmen Heimatsgefühle für unseren Norden nicht verliere, und daß Dein nordischer Jüngling nur mit verstärkter Sehnsucht hier an das ferne, liebe Vaterland zurückdenkt. Grüß mir die liebe Natur recht bei dem jetzt kommenden, köstlichen Erwachen des Frühlings, ein hoher Genuß, den man hier eigentlich entbehrt, da Sommer und Winter fast ununterbrochen ineinander übergehen und sich mischen. Und wie viel schöner war für mich der vorige Frühling, als dieser sein wird. Weißt Du auch wohl noch, was gestern, (17. 4.) vorm Jahre war? Es war ein Sonnabend, wo wir zuerst im Zeughaus waren und dann zusammen dinierten, das köstlichste Mittagessen, das ich je genossen! Und morgen (19. 4.) wird es ein Jahr, daß ich dir auf dem Kreuzberg die Alpenpflänzchen gab. So kehren allmählich alle die Jahrestage unseres beglückenden Liebesfrühlings wieder, die wir nun diesmal weit voneinander getrennt feiern müssen. Sei deshalb aber nicht traurig und denke an das nächste Jahr, wo wir sie wieder zusammen feiern und Du wieder ganz glücklich bist bei Deinem treuen

Erni.


Brief 14 ..................................................Brief 16




zurück zum Inhaltsverzeichnis



Diese Seite ist Teil von Kurt Stübers online library.
Copyright 1999 Kurt Stüber.
Diese Seite wurde erstellt am 21. Juni 1999.