Berg- und Seefahrten (1923)

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gab in der engen verräucherten Wirtsstube bald ein recht tolles, buntes Bild, da auch die Treiber inzwischen mit den Schneeschauflern angekommen waren und sich nun auf alle Weise zu erwärmen und zu erquicken suchten. Namentlich entspann sich ein lebhafter Streit über zwei halb abgenagte Schinkenknochen und die Plätze auf dem breiten Backofen, der mit italienischem Lärm und Eifer geführt wurde.

Wir unsererseits mußten uns rasch auf die Beine machen, wenn wir auf der anderen Seite noch hinunterkommen wollten. Das ging dann aber auch wie im Flug. Die Schlittchen nahmen eine größere Distanz voneinander und jagten dann die 46 Serpentinen des steilen südlichen Abfalls mit einer Geschwindigkeit hinab, daß einem wirklich etwas bange werden konnte un die Italiener in den vorderen Schlitten, wie tags zuvor, anfingen, alle Heiligen anzurufen und sounsoviel Messen zu geloben, wenn sie gesund hinüberkämen. Namentlich das Umbiegen am größten Bogen der Krümmungen geschah mit erstaunlicher Sicherheit und Schnelligkeit, so daß der Schlitten immer mit einem gewaltigen Satze herumgeschleudert wurde und man nicht anders dachte, als daß er nun in den Abgrund von mehreren tausend Fuß hinabfliegen müßte. Die trefflich eingeschulten Pferde, die mit außerordentlicher Kraft und Sicherheit alle diese Mänöver ausführten, für die ein Gaul der Ebene gar nicht zu gebrauchen wäre, hatten aber dann immer schon wieder auf der unteren Windung festen Fuß gefaßt und zogen das kleine Fahrzeug mit Sturmeseile nach sich. Ein paarmal stürzte auch ein und der andere Schlitten um, zum Glück jedoch an ungefährlichen Stellen, und da war denn der Schaden bald wieder gebessert.

Als die gefährlichsten Stellen des Herabstieges, das durch die vielen Lawinenstürze berüchtigte wilde und düstere Val Tremola, wo im vorigen Jahre eine Lawine einen Postschlittenzug mit 45 Menschen in den Tiefen des Abgrundes begraben hatte, erst vorüber waren, ging es nun vollends mit lustiger Geschwindigkeit. Bald kamen auch die ersten Spuren von Vegetation wieder, kleine verkrüppelte Zwerg-Erlen und Knieholz; tiefer unten ging es durch einen dunklen Tannenwald. Die Landschaft war auf dieser Seite fast noch wilder, großartiger und herrlicher als auf der anderen, und man sah noch mehr davo0n, weil die Abstürze hier viel steiler zusammenfallen und die nackten Felskuppen zahlreicher aus der schimmernden Schneedecke hervorschauen. Doch find es bald wieder so stark an zu guxen, daß uns dieser Genuß entging.

Um 6 Uhr abends waren wir dann endlich glücklich in Airolo angelangt, gerade also einen Tag später, als die Regel war; und doch konnten wir uns nur Glück wünschen, unter diesen Umständen so glücklich in zwei Tagen hinübergekommen zu sein. Die oben uns Entgegenkommenden hatten noch einen Tag mehr gebraucht.

So hatten wir denn dem lieben Deutschland auf lange Zeit Lebewohl gesagt. Airolo ist schon ein ganz italienisches Nest mit allem Schmutz und


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Das Original des Werkes wurde freundlicherweise von Herrn Dr. Kurt Stüber zur Verfügung gestellt. Einscannen und bearbeiten durch Frank Al-Dabbagh, Juni, 2003. Eingabe des Textes durch Kurt Stüber, Oktober, 2003.
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