Berg- und Seefahrten (1923)

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Augenentzündung befürchtete. Doch blieben wir trotz dieser Unannehmlichkeiten in der herrlichsten Stimmung, da die umgebenden Alpennatur nah und fern zu entzückend schön war und immer schöner und großartiger wurde, je höher wir hinaufkamen. Die Vegetation blieb freilich bis auf das reichlich überall umherkriechende Knieholz und viele Moose und Flechten bald gänzlich aus. Doch hatten wir in der untersten Zone desselben noch einen schmalen Streifen voll der schönsten Alpenblumen gefunden: Primula auricula und die überaus prachtvolle Primula spectabilis mit ihren kolossalen Purpurglocken, Draba aizoon, das prächtige echte Alpenveilchen (Viola alpina) mit großer, violetter Blüte, welches von allen Alpenblumen jetzt am höchsten hinaufging, Thlaspi alpinum, eine Saxifraga, Gentiana usw.

Bis zum Gipfel hinauf wurde jetzt der Boden ganz polarmäßig nackt und kahl, nur schnee- und eistragend, felsig und moosig dazwischen. Grade um 12 Uhr mittags hatten wir den Gipfel der Raxalpe erklommen, 6388 Fuß ü. M., also nur wenig niedriger als der kolossale, nackte Schneebergrücken, der uns jetzt im Nordwest grade gegenüber lag und den freien Blick in das weite, ebene Wiener Becken größtenteils verdeckte. Um so herrlicher war die Aussicht nach allen andern Seiten und so eigentümlich, wie ich sie nie gesehen. Es fehlte nämlich alles Grün, das sonst den Blick in das Innere des Hochgebirges so etwas wohltuend Heimisches verleiht. Hier war aber in der Tat nichts als überall Schnee und Eis und dazwischen nur die schmalen, nackten Rücken und Firste, die wegen ihrer Steilheit demselben keinen Anhaltspunkt bieten und frei davon bleiben. Aber diese Aussicht hatte etwas ergreifend Großartiges; diese Hunderte und Tausende von nahen und fernen Zacken und Spitzen, Kuppen und Hörnern, bunt und wild über- und durcheinander getürmt, und überall zwischen dem düstern Schwarzbraun der nackten Felsen das schimmernde Silberweiß des blinkenden Schnees, der sich rings um den ganzen Horizont scharf von dem dunkelblauen Himmel abhob. Und welche großartige Natureinsamkeit; kein lebendes Wesen sichtbar; die Vegetation zu unsern Füßen verschwunden; kein Laut in der erhabenen Stille hörbar. Nur einmal wurde die lautlose Stille durch ein eigentümlich kläffendes Geräusch unterbrochen, und als wir hinblickten, sahen wir einen Fuchs ein einsames Schneehuhn aufjagen und dann in gestrecktem Lauf den nächsten Abhang hinuntereilen. Mir wurde so wunderbar wohl und weit in der zauberhaften Eiswelt zumute, daß ich gern noch stundenlang in das herrliche Panorama hineingesehen hätte. Auch der ungestüme, eiskalte, reine Wind, der von den fernen Gletschwerhöhen herüberstob, war mir nicht unangenehm, sondern ich ließ ihn, wie so oft auf meinen Alpenwanderungen frei um Hals und Brust streichen; um so empfindlicher waren meine Gefährten, die endlich mit dem Führer aufbrachen, und denen ich ungern zögernd folgte, nachdem ich noch einen letzten Scheideblick zum Tor- und Dachstein, meinen alten Hallstatter Freunden, hinübergesendet.


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Das Original des Werkes wurde freundlicherweise von Herrn Dr. Kurt Stüber zur Verfügung gestellt. Einscannen und bearbeiten durch Frank Al-Dabbagh, Juni, 2003. Eingabe des Textes durch Kurt Stüber, Oktober, 2003.
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