Berg- und Seefahrten (1923)

Volltext

[Vorige Seite][Index][Nächste Seite]
eines Lieblingswunsches, nämlich die Alpen im Frühling kennen zu lernen, zu versäumen, zumal ich Samstag (wo in Wien Ferialtag und kein Kolleg ist) und Sonntag zu Haus doch nichts verlor. Ich war also leicht gewonnen und blieb mit da, obwohl keineswegs für eine Alpentour ausgerüstet. Nicht nur hatte ich meine Alpenschuhe nicht bei mir, sondern auch außer Pflanzenpresse, Regenschirm und Plaid keine andere Wäsche, als die ich auf dem Leibe trug. So mußte mir denn den Mangel der Wäsche mein trefflicher alter Plaid, der vielerprobte Freund, ersetzen, was er denn auch gleich in der ersten Nacht (wo uns der Zufall in ein Wirtshaus geführt hatte, wo man für Schlafgeld in dem sonst so teueren Badeort nur 10 Kr. zahlte!!) in der Art tat, daß er mir als Bett und Hemd zugleich diente. Das eine Hemd, was ich nur mit hatte, ruhte von den Strapazen des Tages auf einem Stuhl aus und trocknete sich, und ich wickelte mich in puribus naturalibus in meinen Plaid, wie schon öfter auf den Alpen und in Italien. Das Bett zerfiel nämlich bei einem kräftigen Versuch, den ich machte, mich hineinzulegen, in Trümmer, und so blieb mir nur der Boden übrig. Auch sonst war diese denkwürdige Nacht reich an Ereignissen, die uns folgenden Tags noch viel Stoff zum Lachen gaben. An Schlaf war nicht viel zu denken, da verschiedene Insekten, namentlich Wanzen, an denen hier nirgends Mangel ist, uns ebensowenig dazu kommen ließen, als die furchtbare Hitze in der engen Kammer, die uns in ein wahres russisches Schwitzbad versetze. So vertrieben wir uns denn die Nacht mit Erzählungen und schlechten Witzen und amüsierten uns sehr über Chamisso, der noch nie so etwas durchgemacht hatte und ganz außer sich darüber war. Endlich brach der Morgen sehr erwünscht an und wir hatten vor Abgang des Zuges (um 9 Uhr) noch Zeit genug, uns an der Sonne ordentlich zu trocknen. Auf dem Bahnhof genossen wir noch ein klassisches Genrebild, eine Zigeunerfamilie, die von einem Gendarm nach Haus transportiert wurde. Wohl über ein Dutzend Kinder, orgelpfeifenartig in allen Größen, kletterten wie Katzen auf dem kräftigen Vater und der schönen Mutter herum, lauter herrliche nackte Naturgestalten, muskulös und doch zierlich, mit dunkelbrauner Haut, rabenschwarzen Augen und Haaren, edlen, lebensvollen, feurigen Physiognomien. -

Fast auf der ganzen Fahrt von Baden bis zur Anfangsstation der Semmeringbahn (Gloggnitz) hat man zur Rechten den grandiosen Schneeberg vor sich, der sich mit seinem breiten, schneedurchfurchten Rücken wie ein Riese aus den niedern Vorbergen plötzlich erhebt und in allen einzelnen Partien immer großartiger und deutlicher hervortritt, je näher man ihm schrittweise rückt. Anfangs sieht man auch zur Rechten noch die Umgebung des Helenentals und weiterhin Vöslau mit seinen berühmten Weinbergen, bis wohin sich noch immer die Villen und Güter der reichen Wiener erstrecken. Doch tritt diese liebliche Hügelkette bald mehr zurück und hinter Wienerisch Neustadt, wo die Bahn nach Ödenburg abgeht,


Faxsimile (Scan) dieser Textseite.

Das Original des Werkes wurde freundlicherweise von Herrn Dr. Kurt Stüber zur Verfügung gestellt. Einscannen und bearbeiten durch Frank Al-Dabbagh, Juni, 2003. Eingabe des Textes durch Kurt Stüber, Oktober, 2003.
Dieses Buch ist Teil von www.biolib.de der virtuellen biologischen Bibliothek.
© Kurt Stueber, 2007. Dieses Buch ist geschützt durch die GNU Free Document License. Diese Lizenz erlaubt private und kommerzielle Verwendungen unter den Bedingungen der GNU Free Dokument License. Bei Verwendung von Teilen/Abbildungen bitten wir um die Quellenangabe: www.BioLib.de