"Ernst und Agnes Haeckel - Ein Briefwechsel"

119. Brief

Jena, den 21. März 1877.




Liebster Mann! Obgleich ich noch gar keine rechte Antwort von Dir auf meinen letzten Brief habe - was doch recht störend ist, die Briefe gehen so schrecklich lange -, so drängt es mich schon wieder, Dir mein Herz auszuschütten. Dies unruhige Ding von Herz ist sehr unzufrieden und sehnsüchtig und will sich oft gar nicht verständig zureden lassen. Nun die Hälfte der Trennungszeit ist ja einmal wieder abgelaufen, so wird die zweite Hälfte hoffentlich noch rascher vergehen. Gib mir nur immer gute Nachricht, und so oft Du kannst, mein Herzensernst! .  .

Die Kinder sind alle drei wieder recht frisch und gehen viel spazieren. Walter konnte gerade noch die letzte Woche vor Schulabschluß zur Schule gehen, und gestern war Examen, dem ich auch beiwohnte, von 10-12 Uhr. Die Kinder wurden in der biblischen Geschichte und im Deutsch examiniert und bestanden größtenteils gut. Auch Walter machte seine Sache recht gut, besonders im Deutsch, er war in sehr gehobener Stimmung. Der kleine Kerl gab sehr naive Antworten. īs ist ein allerliebster Strick . . .

Deine Korrespondenz macht mir oft große Skrupel. Dieser Tage kam ein Brief von einem Herrn Oberspier aus Köln, wohl demjenigen, bei dem Du damals logiertest, heute ein zweiter Brief auf furchtbar großem Bogen, vier volle Seiten lang geschrieben. Eilig kommt mir die Sache nicht vor, aber ich hätte ihm gern geschrieben, daß Du verreist seiest, kann aber seine Adresse nicht entziffern, er hat so undeutlich geschrieben. Dann kam gestern ein großer Brief aus Stuttgart an von Professor Reuschle nebst einem Heft, das er Dich bittet zu beurteilen. Es ist betitelt: "Versuch einer monistischen Begründung der Sittlichkeitsidee", und ist geschrieben von einem Professor Mayer, einem jungen Lehrer am Stuttgarter Realgymnasium. Dieser junge Mann ist infolgedessen von einem Pfarrer Rapff angegriffen worden, der ihn als Gotteslästerer denunziert hat. Dadurch ist er verklagt worden und wird sich wahrscheinlich noch in diesem Monat vor dem Schwurgericht in Eßlingen zu verteidigen haben. Da dies für seine amtliche Stellung als Lehrer sehr gefährlich werden könnte, meint Prof. Reuschle, würde es von unberechenbarem Wert für ihn sein, wenn Du das Buch in gütigem Sinne besprächst (vielleicht in der Augsburger Allgemeinen), und freilich je früher, je besser! Das ist ungefähr der Inhalt des Briefes. Da ich aber nicht glaube, daß Du Dich geneigt fühlen wirst, die Dunkelmänner abzufertigen, ein sehr undankbares Geschäft und Dir sehr schädlich, nebenbei hast Du jetzt keine Zeit dazu, so habe ich Dir dies Buch noch nicht geschickt, betrachte es vielmehr gerade als ein Glück, daß du verreist bist. Wenn Du wünschst, werde ich Herrn Reuschle schreiben, daß du ihm nach Deiner Rückkehr antworten würdest, oder dergleichen. Auf keinen Fall rate ich Dir, wieder eine auffallende Kritik loszulassen. Die könnte wieder einmal alles gegeen Dich aufbringen, danke schön! Können sich auch einmal andere daran wagen! Aber die hüten sich, wollen sich erstens nicht schaden, zweitens haben sie keinen Mut. Auf keinen Fall darfst Du Dich auf so etwas einlassen. Nun genug von diesem Kram. Wenn nur die Leute Dich in Ruhe ließen! Deine Korrespondenz ruht schwer auf mir, und ich kann mir denken, mein altes liebes Herz, wie frei Du autatmest, wenn Du sie einmal abgeschüttelt hast . . .





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erstellt von Christoph Sommer am 6.10.1999