Richard Semon: Im australischen Busch und an den Küsten des Korallenmeeres. (1903)

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462 Java.

Mit dem Tiger verhält es sich ganz ähnlich wie mit dem Krokodil und dem Haifisch. Die große Mehrzahl geht dem Menschen sorgfältig aus dem Wege, und nur ab und zu kommt es vor, daß einer von ihnen, meist ein altes Tier, das nicht mehr im stande ist, flüchtiges Wild wie Hirsche, Wildschweine, wilde Rinder zu erbeuten, sich von Hunger getrieben an ihn heranwagt. Bald wird es solch einem Gesellen dann klar, daß kein zweites Wild so leicht zu erbeuten ist, so schlechte Sinne, so langsame Beine hat. Da nimmt er denn die unliebenswürdige Gewohnheit an, sich täglich einen Herrn der Schöpfung zum Imbiß zu holen, und ein derartiger »Menschenfresser« kann seinen ganzen Distrikt unsicher machen. Frech überfällt er die Arbeiter in den Pflanzungen, kommt bis dicht an die Dörfer heran, belagert die Landstraßen. Dem Jäger aber, der ihn aufsucht und ihm kühn entgegentreten will, geht auch er sorgfältig aus dem Wege. Ein Sprung aus dem Dickicht heraus auf einen Ahnungslosen ist seine Sache, kein offener Kampf, zu dem er sich nur entschließt, wenn er in die Enge getrieben ist, oder wenn eine Wunde ihn in rasende Wut versetzt.

Das Rhinoceros lebt am Gedeh nur noch in der Tradition und in einigen Ortsnamen. Sehr lästig machen sich die Wildschweine, die nachts in die Pflanzungen des Gartens brechen und dieselben verwüsten. Doch ich will keine Aufzählung der javanischen Säugetierwelt geben, da mir die Behandlung der indischen Fauna, deren Bereich ich auf meiner langen Reise nur kurz gestreift habe, hier ferne liegt. Obwohl in Arten und Gattungen von der europäischen Fauna unterschieden, sind es doch größtenteils dieselben Familien und Ordnungen, denen wir begegnen. Vieles ist reicher, kräftiger, farbenprächtiger als bei uns, wie es der unerschöpfliche Reichtum und die verschwenderische Üppigkeit der Tropenwelt mit sich bringt. Aber alles ist uns hier vertrauter, überall ist die Anknüpfung leichter als in Australien, wo wir uns in einer fremden Welt befinden. Übrigens sind die Bergwälder hier oben zwar nicht gerade tierarm, aber doch etwas still und schweigsam. Selten hört man bei Tage den Laut eines Sängers, unvergleichlich geringer ist die Farbenpracht der Vogelwelt gegen diejenige, die die Küsten Neu-Guineas bevölkert. Der Hauptschmuck des Waldes ist ein zahlreiches Heer bunter, vielgestaltiger Schmetterlinge, die Wegränder und Lichtungen umschweben.

Abends sammelte ich eine große Anzahl von Motten und Nachtschmetterlingen, indem ich ein helles Licht auf die Veranda des Hauses stellte und die massenhaft herbeiströmenden Nachtinsekten


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Das Original des Werkes wurde freundlicherweise von der Universitätsbibliothek Köln zur Verfügung gestellt. Einscannen und bearbeiten durch Frank Al-Dabbagh, Oktober, 2003.
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© Kurt Stueber, 2003