Richard Semon: Im australischen Busch und an den Küsten des Korallenmeeres. (1903)

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Kunstsinn.

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zum Beispiel die verschiedenartigen geschmackvollen Muster ihrer Siebe, so erkennt man, wie unendlich dieses alte Volk und sicherlich noch viel mehr die Griechen zu ihrer Blütezeit uns Modernen an Schönheitssinn und Kunstbedürfnis überlegen waren, und wird mir recht geben, wenn ich behaupte, daß der Formensinn uns Europäern der Neuzeit zum großen Teile verloren gegangen ist1).

Aber wie sehr unterscheiden sich in dieser Beziehung auch die armen unbekleideten Wilden Neu-Guineas von uns. Ihre Entwicklung im allgemeinen befindet sich erst auf der Höhe, welche der neuern Stein- oder neolithischen Periode Europas entspricht. Alle ihre Werkzeuge bestehen aus Holz, Stein, Muschel, Knochen, sie verstehen nicht die Gewinnung und Bearbeitung irgend eines Metalls. Dabei stehen sie doch über den Australiern, denn ihre Steinbeile sind ausgezeichnet poliert (Fig. 19a, 20a) und sie kochen ihre Speisen in selbst gearbeiteten Tongefäßen. Betrachtet man aber ihre primitiven Holz-, Muschel- oder Steingerätschaften, ihre Gefäße aus Kürbis oder Kokosnußschale, wie sehen wir einen siegreichen Geschmack Alles, auch das Kleinste durchdringen! Wenn man Hunderte von Gebrauchsgegenständen oder Waffen der Papuas durchmustert, so wird man selten oder nie ein einziges finden, welches nicht wenigstens durch irgend eine kleine Verzierung Zeugnis für den Schönheitssinn seiner Verfertiger ablegt, nicht etwas an sich trägt, was über die gewöhnliche Nützlichkeit hinausgeht. Ich habe auf den nebenstehenden Tafeln eine Anzahl Abbildungen der von mir mitgebrachten papuanischen Waffen und Geräte gegeben, um den Lesern einen Begriff davon zu geben, was ich meine. Leider sind aber gerade hier die photographischen Reproduktionen recht unvollkommen ausgefallen und geben nur eine schwache Vorstellung von der wirklichen Schönheit der Gegenstände.

Zu bewundern ist in erster Linie die Vielgestaltigkeit und der Abwechslungsreichtum der Muster, ein Beweis, wie schöpferisch die Phantasie dieses Naturvolkes sein primitives Material zu behandeln versteht. Auf Fig. 21 und 22 der folgenden Seite sehen wir Armbänder aus der Muschel Conus millepunctatus, einen sehr beliebten Armschmuck, in Fig. 23 eine Anzahl schmaler Armringe aus Trochus, in Fig. 23 sind viele

1) Seit ich diese Zeilen vor 7 Jahren niederschrieb, hat sich, ausgehend von den reformatorischen Bestrebungen einiger jüngerer Künstler, auch im deutschen Kunstgewerbe in der von mir gekennzeichneten Richtung ein Umschwung zum Besseren bemerklich gemacht. Freilich sind es. besonders was das Kunstbedürfnis und den Geschmack des großen Publikums anlangt, bloße Anläufe, zunächst noch vielfach auf Abwege führend, in ihrem Streben aber verheißungsvoll.


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Das Original des Werkes wurde freundlicherweise von der Universitätsbibliothek Köln zur Verfügung gestellt. Einscannen und bearbeiten durch Frank Al-Dabbagh, Oktober, 2003.
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© Kurt Stueber, 2003