Richard Semon: Im australischen Busch und an den Küsten des Korallenmeeres. (1903)

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434 Neu-Guinea. Vom Südkap bis zum Ostkap.

ersten Ranges geschaffen und ihnen einen Formensinn verliehen, der wahrhaft erstaunlich ist.

Wenn es auch einleuchtet, daß eine auf so niedriger Kulturstufe stehende Rasse wie die Papuas sich nicht in der Höhe ihrer Kunstentwicklung mit uns Europäern messen kann, und überhaupt nicht, was den Inhalt ihrer Schöpfungen anlangt, mit ihnen in einem Atem zu nennen ist, so übertreffen sie uns doch in der allgemeinen Verbreitung dieses Sinnes und in ihrem eigentlichen Kunstbedürfnis.

Wie gering ist doch dieses letztere bei unsern niedern und selbst mittlern Ständen entwickelt. Fällt es unsrer Fischerbevölkerung ein, die Ruder zierlich zu formen oder durch irgend eine Verzierung zu verschönen? verlangt irgend ein europäischer Landmann von Pflug und Ackergerät etwas andres als daß es praktisch und brauchbar sei, und macht er sich einen Deut aus der schönen Form, obwohl er Tag für Tag, Jahr aus Jahr ein mit diesen Dingen hantiert? und sind wir Gebildete etwa anders? Der Kunstsinn ist bei den meisten von uns etwas äußerlich erworbenes, aufgepfropftes. Wir lesen Bücher über Kunstgeschichte, wir sehen uns Bilder und Statuen an und empfinden sogar echtes Vergnügen, wenn wir einmal auf einer italienischen Reise so recht gründlich Kunst »studieren« können. Wenn es hoch kommt, abonnieren wir auch auf eine Kunstzeitschrift und schmücken neuerdings unser Heim mit allerlei Fabrikware, die nur selten der Eigenart des Besitzers Rechnung trägt und den Geschmack eher zu verflachen als zu entwickeln geeignet ist.

Aber ist das alles nicht viel mehr angelernt als von innen kommend? Nehmen nicht Hunderttausende von uns Tag für Tag denselben Federhalter in die Hand, ohne daß seine banale oder sogar häßliche Form sie im mindesten stört, ohne daß ihnen in ihrem ganzen Leben der Gedanke gekommen wäre, sich statt dessen für geringe Kosten als täglichen Gebrauchsgegenstand etwas Schönes, dem Auge Gefälliges zu verschaffen? Geht es uns nicht mit tausend andern Dingen ebenso? Unsere Reichen treiben wohl Luxus, indem sie ihre Bürsten und Kämme aus Elfenbein oder Silber herstellen lassen und mit Monogrammen verzieren. Aber wo finden wir denn auch nur den Versuch gemacht, einen edleren Luxus durch Bevorzugung einer schönen gefälligen Form statt den der brutalen Kostbarkeit des Stoffes zu treiben? Fast ebenso verhält es sich mit unsern Messern, Gabeln und Löffeln, die wir täglich in die Hand nehmen und an denen wir nur eben Anflüge eines eigentlichen Kunstsinnes bemerken. Geht man ins Neapler Museum und mustert die Gerätschaften der alten Pompejaner, selbst ihre Kücheneinrichtungen,


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Das Original des Werkes wurde freundlicherweise von der Universitätsbibliothek Köln zur Verfügung gestellt. Einscannen und bearbeiten durch Frank Al-Dabbagh, Oktober, 2003.
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© Kurt Stueber, 2003