Richard Semon: Im australischen Busch und an den Küsten des Korallenmeeres. (1903)

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Religiöse Vorstellungen der Australier. 251

aber herrscht allgemein der Glaube an Gespenster, die Geister der Verstorbenen, denen keine rechte Bestattung zu teil geworden oder die durch Zauberer behext sind. Diese Erfahrung habe ich auch bei den Schwarzen gemacht, unter denen ich gelebt habe Die Gespensterfurcht prägt sich besonders darin aus. daß nachts niemand gern den Platz beim Feuer verläßt, und nächtliche Jagden ganz ausgeschlossen sind. An den Glauben an Gespenster, die Geister der Abgeschiedenen, die nicht in der rechten Weise bestattet sind, knüpft sich ein ziemlich ausgebildetes, aber lokal sehr verschiedenes Bestattungsceremoniell. In Central-Queensland werden die Leichen gewöhnlich zunächst im Ganzen in hohlen Bäumen getrocknet, die Knochen später in der Erde oder in Baumhöhlungen begraben. Manche Stämme errichten besondere Holzgerüste, um die Leichen sicher vor Dingos und anderen Tieren zu trocknen. Zuweilen werden auch die Leichen durch Räucherung mumifiziert und eine Weile lang auf den Wanderungen des Stammes mit herumgeschleppt, ehe man sie begräbt. Beim Begraben werden Körper oder Knochen gewöhnlich mit Baumrinde umhüllt. In manchen Gegenden Südwestaustraliens werden die Toten verbrannt. An vielen Orten findet sich die Sitte, dass gewisse Teile der Verstorbenen von den Verwandten verzehrt werden, eine höchst widerwärtige Erscheinung, die sicher durch abergläubische Vorstellungen gezeitigt worden ist. Ebenso wie an Geisterspuk wird überall auch an Zauberei und Hexerei geglaubt. Krankheit und Tod sind nichts natürliches, sondern erscheinen hervorgebracht durch Zauberer fremder Stämme. Die Zauberer des eigenen Stammes vermögen dem entgegenzuwirken und betreiben die Heilkunst mit allerlei Hokuspokus.

Während, wie gesagt, bei den weitaus meisten Stämmen von Queensland und New South Wales von keinerlei Gottesglauben, höchstens von Dämonismus und lächerlicher Angst vor menschlichen Zauberern gesprochen werden kann, haben einige südliche und westliche Stämme, und zwar solche, die auch in ihrem übrigen Geistesleben weiter entwickelt sind, eine etwas höhere Stufe der religiösen Entwicklung erstiegen. Sie glauben an einen oder mehrere gute und böse Geister, denen besondere Namen beigelegt und besondere Eigenschaften und Attribute zugeschrieben werden. Damit verknüpfen sich naive kosmogonische Vorstellungen. Der betreffende Geist ist der Gründer des Stammes und wird gleichzeitig zum Schöpfer der ganzen Welt. Wahrscheinlich war es wirklich ursprünglich ein berühmter Krieger und Patriot, dessen Name durch Tradition erhalten, und dessen Geist allmählich nicht mehr als bloßes Gespenst, sondern


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Das Original des Werkes wurde freundlicherweise von der Universitätsbibliothek Köln zur Verfügung gestellt. Einscannen und bearbeiten durch Frank Al-Dabbagh, Oktober, 2003.
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© Kurt Stueber, 2003