Oscar Hertwig:
Zur Abwehr des ethischen, des sozialen, des politischen Darwinismus

Vorwort

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Vorwort zur zweiten Auflage.

Meine in rascher Folge nacheinander herausgegebenen zwei Schriften, in denen ich den Kampf gegen DARWIN's Zufallstheorie und gegen die aus ihr gezogenen kulturfeindlichen Folgerungen aufgenommen habe, sind zu rechter Zeit erschienen. Mitten im Kriegslärm veröffentlicht, sind sie doch nicht überhört worden und haben in der wissenschaftlichen Kritik und in der Tagespresse viele zustimmende Erklärungen erfahren, wie es in früheren Jahrzehnten in der Hochflut des Darwinismus kaum möglich gewesen wäre. Schon 2 Jahre nach ihrem Erscheinen mußten beide Werke neu verlegt werden, obwohl der Absatz nach dem feindlichen und neutralen Ausland entweder infolge der Blockade ganz unterbunden oder wenigstens stark behindert war. Die zweite Auflage vom "Werden der Organismen, zur Widerlegung von DARWIN's Zufallstheorie durch das Gesetz in der Entwicklung" erschien 1918, ihr folgt jetzt die neue Auflage der kleineren Schrift mit dem Titel: "Zur Abwehr des ethischen, des sozialen, des politischen Darwinismus" nach und bildet zu ihr eine notwendige Ergänzung.

Ich halte diese zweite Schrift noch mehr als die erste für ein Erfordernis der Zeit. Denn während mein Buch vom "Werden der Organismen" zwar eine sehr wichtige allgemeine, aber doch immerhin nur eine streng wissenschaftliche Frage aus dem engeren Gebiet der Biologie behandelt, betrifft meine zweite Schrift eine ganze Reihe von Fragen, deren verschiedene Beantwortung die ganze Weltanschauung des Einzelnen in tiefergreifender Weise beeinflussen muß; sie betrifft Folgerungen, welche von übereifrigen Darwinianern aus der Lehre des Meisters, der selbst nicht soweit gegangen sein würde, auf ethischem, sozialem und politischem Gebiet gezogen worden sind und welche meiner Ansicht nach die größten Gefahren für die weitere Kulturentwicklung in sich bergen. Dies gilt besonders für unsere Zeit, in welcher alle Beziehungen der einzelnen Menschen zur Gesellschaft, zum Staat und zu anderen Völkern in eine gährende, verworrene Bewegung geraten sind. Ist doch aus dem vierjährigen Völkerkrieg, der mit den furchtbarsten Zerstörungsmitteln moderner Zivilisation, mechanischer Wissenschaft und kapitalistischer Technik geführt worden ist, als seine unmittelbare Fortsetzung eine Weltkrisis hervorgegangen, die alle Gebiete des Daseins sowohl die geistigen wie die materiellen berührt. Manche sprechen auch von einer Weltrevolution, wie sie die Sozialdemokratie, auf der Lehre von MARX fußend, schon lange prophezeit und deren Ausbruch sie mit Ungeduld von Jahrzehnt zu Jahrzehnt erwartet hat. Wie lange die Krise dauern, von welcher Tragweite sie für die Kultur Europas und anderer Erdteile werden und zu welcher neuen Ordnung der Dinge auf veränderten Grundlagen sie aus der jetzt geschaffenen Unordnung führen wird, wer wollte und könnte dies schon jetzt voraussagen? Wird nicht vielleicht die Gegenwart dermaleinst als der Beginn einer neuen Weltenwende von einer Geschichtsforschung ferner Zukunft beurteilt werden, vergleichbar dem ersten Auftreten des Christentums mit seinen unabsehbaren Folgen für die Völker des Abendlandes?

In dem sich jetzt entwickelnden geistigen Kampf, der den Kampf mit der Waffe ablöst, Stellung zu nehmen, ist die vornehmste Aufgabe meiner Schrift, in der ich die Aufmerksamkeit auf die Verirrungen und Gefahren lenke, welche die Anwendung einer unhaltbaren biologischen Lehre auf das ethische, soziale und politische Gebiet in sich birgt. In dieser Richtung kann das vorliegende Buch, wie ich hoffe und wünsche, auch zum geistigen Wiederaufbau des darniedergebeugten deutschen Volkes nach seiner schweren Niederlage beitragen.

Berlin-Grunewald, September 1921.

Oscar Hertwig.


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Erstellt am 6. August 2001 von Kurt Stüber.