Oscar Hertwig:
Zur Abwehr des ethischen, des sozialen, des politischen Darwinismus

Einleitung

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Einleitung.

Als ich in meinem Buch: "Das Werden der Organismen" einige Trugschlüsse in wichtigen Grundlehren des Darwinismus aufzudecken bemüht war, hatte ich mir vorgenommen, das engere Gebiet der biologischen Wissenschaft nicht zu überschreiten. Doch war ich mir schon damals bei der Niederschrift wohl bewußt, daß mein Werk infolge dieser Beschränkung eine spätere Ergänzung erfordern würde. Denn die von DARWIN entwickelten Prinzipien sind schon bald nach ihrer Veröffentlichung im Jahre 1859 nicht auf die Entstehung der pflanzlichen und tierischen Art beschränkt geblieben: sie sind durch die aus ihnen gezogenen Konsequenzen und immer weiter ausgedehnten Nutzanwendungen zum Ausgangspunkt einer Bewegung geworden, die kaum ein Gebiet der menschlichen Kultur unberührt gelassen hat. Ja gerade diese schon früh zutage tretende Verbindung der Fachwissenschaft mit den vielseitigsten menschlichen Interessen und Lebensproblemen hat nicht wenig zu dem blendenden Siegeslauf und zu der beherrschenden Stellung beigetragen, die sich der Darwinismus eine Zeitlang im Leben der Kulturvölker errungen hat.

Die hier vorliegende weitere Aufgabe, zu der eine erschöpfende Kritik des Darwinismus notwendig führen muß, habe ich schon in meinem "Werden der Organismen" angedeutet; in einem kurzen Nachwort bemerkte ich: "Die Auslegung der Lehre Darwins, die mit ihren Unbestimmtheiten so vieldeutig ist, gestattete auch eine sehr vielseitige Verwendung auf anderen Gebieten des wirtschaftlichen, des sozialen und des politischen Lebens. Aus ihr konnte jeder, wie aus einem delphischen Orakelspruch, je nachdem es ihm erwünscht war, seine Nutzanwendungen auf soziale, politische, hygienische, medizinische und andere Fragen ziehen und sich zur Bekräftigung seiner Behauptungen auf die Wissenschaft der darwinistisch umgeprägten Biologie mit ihren unabänderlichen Naturgesetzen berufen. Wenn nun aber diese vermeintlichen Gesetze keine solchen sind, sollten da bei ihrer vielseitigen Nutzanwendung auf andere Gebiete nicht auch soziale Gefahren entstehen können? Man glaube doch nicht, daß die menschliche Gesellschaft ein halbes Jahrhundert lang Redewendungen, wie unerbittlicher Kampf ums Dasein, Auslese des Passenden, des Nützlichen, des Zweckmäßigen, Vervollkommnung durch Zuchtwahl usw. in ihrer Übertragung auf die verschiedensten Gebiete wie tägliches Brot gebrauchen kann, ohne in der ganzen Richtung in ihrer Ideenbildung tiefer und nachhaltiger beeinflußt zu werden. Der Nachweis für diese Behauptungen würde sich nicht schwer aus vielen Erscheinungen der Neuzeit gewinnen lassen. Eben darum greift die Entscheidung über Wahrheit und Irrtum des Darwinismus auch weit über den Rahmen der biologischen Wissenschaften hinaus."

In diesen Worten ist schon das Programm enthalten, das ich mir in dieser zweiten Schrift gestellt habe. Es gilt zu zeigen, wie bald hier bald dort versucht worden ist, durch DARWIN's Lehren, die ursprünglich nur rein biologische sind, jetzt auch die verschiedensten Gebiete des menschlichen Lebens zu reformieren und zu revolutionieren. Bei diesen Bestrebungen handelt es sich nicht mehr, wie jeder bald erkennen wird, um eine rein wissenschaftliche Behandlung aller möglichen und oft der schwierigsten Fragen, sondern um eine von Glaubensimpulsen geleitete sozial-politische Bewegung, welche den Grund zu einer neuen Naturreligion legen und ein angeblich höheres Zukunftsideal der Menschheit offenbaren will. Die von DARWIN neu entdeckten Lehren, die von berühmten Männern der Wissenschaft den Gesetzen NEWTON's an Bedeutung gleichgestellt und von ihnen als schon feststehende Wahrheiten einem nur allzu empfänglichen, leichtgläubigen Publikum verkündet worden sind, sollen zum festen Ausgangspunkt für eine durch Naturphilosophie geleitete Umwertung fast aller menschlichen Verhältnisse gemacht werden.

In dieser Beziehung drängt sich mir ein Vergleich mit einer zweiten, nur 100 Jahre älteren sozial-politischen Bewegung auf, die tiefe Spuren in der Geschichte hinterlassen und von dem Contrat social von JEAN JACQUES ROUSSEAU ihren Ausgang genommen hat Denn ROUSSEAU's soziale Philosophie, vorgetragen mit der Wärme der Überzeugung in seinen vielgelesenen Schriften, wurde die Magna charta der französischen Revolution. Auch hier wurden aus dem dogmatisch erschlossenen und poetisch ausgeschmückten Naturzustand. der Menschen die "unvergänglichen Menschenrechte" hergeleitet; im Dreigestirn, "Liberté, Egalité, Fraternité" wurden sie zum Evangelium des Konvents, das am Beginn der Revolution nicht nur französische Herzen bezauberte, sondern auch von anderen Völkern mit Beifall aufgenommen wurde.

DARWIN selbst ist freilich zu keiner Zeit seines Lebens ebensowenig wie WALLACE, der Mitbegründer der Selektionstheorie geneigt gewesen, eine Anwendung seiner Naturgesetze auf die Entwicklung der Menschheit predigen zu wollen. Dazu waren ihm schon die Überzeugungskraft und die Sprache eines JEAN JACQUES ROUSSEAU nicht gegeben. Als DARWIN erst nach vieljährigen Vorbereitungen und Überlegungen zur Ausarbeitung seines Grundgedankens der "Natural selection" schritt, war er sich vieler Schwächen seiner Schlußfolgerungen wohl bewußt und als echter Naturforscher weit entfernt von ihrer Unfehlbarkeit überzeugt zu sein. Trotz des ihm gespendeten Beifalls ist er bis zu seinem Lebensende, wie mir scheint, des Zweifels nie völlig Herr geworden; auch hat er selbst nie eine in aller Konsequenz durchgeführte Selektionstheorie gelehrt, sondern sie mit den Prinzipien des Lamarckismus in nicht immer klarer Weise zu verknüpfen und zu verquicken gesucht. Vollends aber hat er vermieden, die zahlreichen, alle menschlichen Verhältnisse berührenden Schlußfolgerungen zu ziehen, die als Keime in seiner Selektionstheorie bis zu einem gewissen Grade enthalten sind.

WALLACE hat sich zwar viel entschiedener als DARWIN über die Richtigkeit der Selektionstheorie ausgesprochen; er hat sie aber zugleich auch in ihrer Tragweite, was den Menschen betrifft, eingeschränkt und zum Teil wieder aufgehoben. In seinen 1870 veröffentlichten Beiträgen zur Theorie der natürlichen Zuchtwahl bespricht er "die Grenzen derselben in ihrer Anwendung auf den Menschen" in einem besonderen Kapitel (X) und betont mit Nachdruck, daß "die Nützlichkeitshypothese, welche die Theorie der natürlichen Zuchtwahl auf den Geist anwendet, ihm ungenügend erscheint, um die Entwicklung der Moral zu erklären" (1870 l. c. S. 404). Selbst in der Erwartung, auf großen Widerspruch zu stoßen, zieht er aus dieser Klasse der Phänomene den Schluß, daß eine überlegene Intelligenz die Entwicklung des Menschen nach einer bestimmten Richtung hin und zu einem speziellen Zwecke geleitet hat, gerade so, wie der Mensch die Entwicklung vieler Tier- und Pflanzenformen leitet. Da er die großen Gesetze der Abänderung, der Vermehrung und des Überlebens des Passenden, welche die materielle Welt regieren, für ungenügend zur Produktion des intellektuellen, immer vorwärtsstrebenden geistigen Menschen hält, vermutet er ein allgemeineres und fundamentaleres Gesetz, als die natürliche Zuchtwahl, z. B. ein Gesetz der "unbewußten Intelligenz, welches die ganze organische Natur durchdringt".

Einen wesentlich anderen Charakter erhielt die als Darwinismus bezeichnete wissenschaftliche Bewegung erst durch DARWIN's Anhänger, unter denen HAECKEL, WEISMANN und GALTON früh zu großem Einfluß gelangten und auf verschiedenen Wegen sich am Ausbau und an der Vollendung der neuen Lehre beteiligten.

Keiner hat mehr als HAECEEL zur raschen und weiten Verbreitung des Darwinismus durch seine wissenschaftlichen Schriften, noch mehr aber durch seine an das Laienpublikum gerichteten und daher populär geschriebenen Bücher beigetragen. Als Reformator auftretend, wußte er auch auf andere überzeugend zu wirken und vor allen Dingen durch Ausnutzung der Macht, welche in dem Gedanken der fortschrittlichen Entwicklung liegt, auf den Verstand und noch mehr auf das Gefühl und die Phantasie des Lesers einzuwirken. Denn es liegt eine große Kraft, welche besonders das empfängliche Gemüt der Jugend erobern muß, in der Vorstellung, daß durch die Naturforschung menschlicher Scharfsinn erkannt hat, wie auf natürlichem Wege aus niedersten Anfängen des Lebens, von der Amöbe an durch eine unzählige Reihe von Zwischengliedern oder Ahnen, vom Wurm zum Amphioxus, vom Amphioxus zum Affen schließlich aus diesem der Mensch mit seinen wunderbaren Eigenschaften und geistigen Fähigkeiten entstanden ist. Wenn also die natürliche Entwicklung ihrer ganzen Art nach ein fortschrittlicher Prozeß ist, der zu immer vollkommeneren Formen des Lebens hinführt, muß das nicht wirken in einer Zeit, welche Fortschritt und Reform gegen reaktionäre und konservative Parteien im Staatsleben auf ihre Fahne geschrieben hat? Und muß es ferner ein jugendliches Gemüt nicht noch mehr begeistern, wenn ihm zugleich gelehrt wird, daß es dem Naturforscher sogar gelungen ist, in die Ursachen dieses für menschliche Vernunft scheinbar unergründlichen Werdeprozesses einzudringen, daß die von DARWIN entdeckte natürliche Zuchtwahl dieser Zauberstab ist, der uns die Quellen der Erkenntnis geöffnet hat?

Schon im Vorwort zur ersten Auflage der natürlichen Schöpfungsgeschichte (1868 Seite IV) sieht HAECKEL in dem epochemachenden Werk von DARWIN "das unveräußerliche Erbgut der menschlichen Erkenntnis und die erste Grundlage, auf der alle wahre Wissenschaft in Zukunft weiter bauen wird". "Entwicklung" ist ihm das Losungswort von "weltumgestaltender Bedeutung", durch das wir alle uns umgebenden Rätsel lösen oder wenigstens auf den Weg ihrer Lösung gelangen können.

Während so HAECKEL als Prophet des Darwinismus alle nach Reform verlangenden Kreise um sich vereinigte und aus der heranwachsenden, für alles Neue ja am meisten empfänglichen Jugend gleich überzeugte Anhänger der neuen, wissenschaftlich religiösen Lehre zuführte, war WEISMANN inzwischen von Jahrzehnt zu Jahrzehnt um so eifriger bemüht, mit allen Mitteln der Dialektik und scheinbar zutreffender Logik die "natürliche Zuchtwahl" von den ihr anhaftenden Schlacken des Lamarckismus zu befreien und sie als das allein und allgemein gültige Erklärungsprinzip für das Werden der Organismen, weit über DARWIN's Absichten hinausgehend, darzustellen. Indem er eine Veränderung der Organismen durch direkte Bewirkung für unmöglich erklärte, wurde er auch ein energischer Gegner der bis dahin fast allgemein gültigen Vererbungslehre und da diese meist sehr unkritisch angewandt worden war, gelang es ihm, seine Lehre von der "Nichtvererbbarkeit erworbener Eigenschaften" vorübergehend zu großer, fast allgemeiner Geltung in der Wissenschaft zu bringen. In England war ihm in dieser Beziehung schon GALTON, der zwar ein Anhänger DARWIN's, in der Vererbungsfrage aber sein Gegner war, mit seiner Lehre vom "stirp" erfolgreich vorangegangen.

Wir werden später sehen, wie sehr durch GALTON und WEISMANN, die beide eine neue von DARWIN und HAECKEL weit abführende Richtung in der Entwicklungslehre einschlugen, die auf menschliche Verhältnisse ausgedehnten Erklärungs- und Reformversuche der darwinistischen Bewegung beeinflußt wurden. Um diese zu verstehen, ist zweierlei im Auge zu behalten.

Einmal tragen die Männer, welche eine Höherentwicklung der Menschheit auf naturphilosophischer Grundlage herbeiführen wollen, kein Bedenken, die Lehren von DARWIN und HAECKEL, von GALTON und WEISMANN als sichergestellte Sätze der Wissenschaft auf Treu und Glauben anzunehmen; besonders gilt dies von denen, die als Nichtbiologen selbst nicht in der Lage sind, sich ein eigenes Urteil über die komplizierten Lebenserscheinungen zu bilden, die sich nur schwer in ihrem wahren Zusammenhang beurteilen lassen. Zweitens aber sind sie auf das eifrigste bemüht, nach dem Beispiel von HAECKEL weitgehende Hoffnungen durch den Glauben zu erwecken, daß sich durch zielbewußte Anwendung des Selektionsprinzips und unter der Herrschaft der neuen Naturphilosophie ein ganz unübersehbarer Fortschritt zu einem weit vollkommeneren Zustand im Entwicklungsprozeß der Menschheit werde erreichen lassen. Sie erinnern in diesem Glauben an die Franzosen des 18. Jahrhunderts. Auch diese glaubten, auf JEAN JACQUES ROUSSEAU's "natürliche Menschenrechte" bauend durch das Losungswort "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" alle Mißstände des alten Regimes heilen zu können; sie hofften durch Festsetzung einer auf "die Menschenrechte" begründeten Konstitution, eines ROUSSEAU'schen ,"Contrat social", ein glückliches Zeitalter der Menschheit von der neuen Zeitrechnung der Revolution an herbeizuführen.

Damit der Leser sieht, daß ich nicht übertreibe, will ich nur 3 Gewährsmänner GALTON, TILLE und SCHALMAYER anführen, die zugleich im Namen von vielen anderen sprechen mögen. So glaubt GALTON, daß die auf seine Vererbungslehre und auf DARWIN's Zuchtwahlprinzip begründete Wissenschaft, die er als Eugenik bezeichnet, "die Weihe einer nationalen Religion" erhalten werde (Zitat nach SCHALLMAYER' l. c. S. 456). Auch TILLE (1. c. S. 19-22) sieht "die geltende Moral bedingungslos fallen, je einfacher sich aus den durch die Naturwissenschaft aufgezeigten Entwicklungszielen der Menschheit neue sittliche Gebote erkennen lassen, die durch ihre eigene Wucht und Erhabenheit binnen kurzem das Eigentum des Gewissens der Gegenwart werden." Er verkündet es als "ein großes Glück für die Menschheit, daß die Entdeckung der Entwicklung durch natürliche Auslese im Wettbewerb um die Daseinsmittel noch rechtzeitig in die Welt trat." Eine hierauf begründete "Entwicklungsethik" schwebt ihm als ein so hohes Ideal vor, daß er nicht zaudert zu erklären: "Dem Mann, dem es gelingt, die Normen und die Formel zu finden, welche die Massen hinreißt und für das neue Ideal begeistert, das die Entwicklungslehre aufgezeigt hat, wird die Geschichte des geistigen Lebens, die Geschichte der Sittlichkeit, seinen Platz neben Moses, Buddha und Jesus anweisen."

Wie TILLE, urteilt auch SCHALLMAYER (l. c. S. 444) daß "es einen verheißungsvolleren und zuverlässigeren Weg zum Glück der künftigen Menschheit kaum geben kann, als den, welchen die rassendienstliche Ethik weist". Er nennt sie das hohe und begeisterungswürdige Ideal (l. c. S. 383). Für ihn ist "nicht nur bei der Entwicklung des Organismenreichs, sondern auch bei der kulturellen Entwicklung Auslese die vorwärts treibende Kraft, wenn auch indirekt und hierdurch zum Teil versteckt (l. c. S. 346). Nur durch zielbewußte Verwertung DARWIN'scher Gesichtspunkte werde die menschliche Kulturentwicklung in Zukunft zu bisher unerreichbaren Höhen emporsteigen können" (l. c. S. XI).

Die aus dem Darwinismus geborenen Reformideen betreffen namentlich drei eng miteinander verknüpfte Gebiete der menschlichen Kultur, auf denen schwere Schäden in der Gegenwart aufgedeckt und zu deren Heilung neue Entwicklungsziele der Menschheit gesteckt werden. Es handelt sich teils um ethische, teils um soziale, teils um politische Fragen, die auf der Grundlage der Lehren DARWIN's neu beantwortet und geordnet werden sollen. Insofern können wir bei unserer Darstellung zweckmäßigerweise auch von einem ethischen, einem sozialen und einem politischen Darwinismus sprechen. Ehe wir indessen auf die vielfältigen und zuweilen recht tumultuarisch auftretenden Bestrebungen näher eingehen und, soweit wir mit ihnen nicht übereinstimmen können, zu ihrer Abwehr schreiten, scheint es mir angebracht zu sein, noch einmal eine kurze Zusammenfassung des Urteils zu geben, zu welchem ich über die wesentlichen Lehren DARWIN's, also über den biologischen Darwinismus, in meinem kürzlich erschienenen Buch "vom Werden der Organismen" gelangt bin.

Somit gliedert sich der Inhalt meiner Schrift in 4 Themata mit den Überschriften: l. Der biologische, 2. der ethische, 3. der soziale, 4. der politische Darwinismus.


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Erstellt am 6. August 2001 von Kurt Stüber.