Ernst Haeckel: Briefe an die Eltern

84. Brief

Würzburg, 11. 6. 1856.

Meine lieben Eltern!

. . . An dem Thema, das mir Virchow zur Dissertation gegeben, arbeite ich nun schon bald einen Monat, ohne auch nur das geringste herausgebracht zu haben. Ich soll die Natur und Entstehungsweise von kleinen Bläschen (Zysten) ergründen, welche sich sehr häufig an den Zotten der Blutgefäßnetze(plexus corioidei) in den Höhlen des Gehirns finden; das ist ein verdammt subtiles und schwieriges Thema und für meine groben Hände und namentlich für meine unruhige Ungeduld ein bißchen gar zu fein. Ich habe schon oft fast ganz den Mut verloren und möchte manchmal, wenn ich so 2-4 Stunden ohne irgendein Resultat hinter dem Mikroskop gesessen, fast davonlaufen. Da heißt's aber: aushalten! Und Geduld lerne ich wenigstens dabei. Hoffnung habe ich aber wenig . . .

Vorige Woche gab's einmal sehr wenig zu tun. Es schien völlige Immortalität im Spital eingetreten zu sein. Um so mehr konnte ich für mich in Anatomie arbeiten. Vorgestern und ebenso gestern gab es aber auf einmal drei Sektionen, so daß ich alle Hände voll zu tun hatte. Bei der großen Hitze werden die Sektionen mit ihrem Schmutz und Gestank, namentlich da zugleich die große Feuchtigkeit die Fäulnis sehr begünstigt, jetzt manchmal selbst für Virchow etwas unangenehm. Ich habe aber jetzt so gründlich alle und jede Scheu und Furcht überwunden, so total den ganzen Frachtwagen an Vorurteilen und Launen, den ich, wie die Schnecke ihr Haus, mit mir herumschleppte, abgeworfen, daß mich absolut gar nichts von all dem Schauerlichen und für Laien Entsetzlichen, das es in der Medizin gibt, mehr nur irgendwie aus der Fassung bringen kann. Wie kann man sich doch ändern! Wenn ich 1852 als jämmerlicher Fuchs zu präparieren anfing, faßte ich alles womöglich nur mit Pinzetten und Tüchern an, und hatte ich mich auch ja zufällig etwas auch bei einer ganz gesunden Leiche in den Finger geschnitten, so ätzte ich mich gleich so stark mit Höllenstein, daß es sechs Wochen lang eiterte. Jetzt wühle ich selbst mit angerissenen und geritzten Händen in all dem faulen Zeug so gleichgültig herum, als legte ich Pflanzen ein, und es hat mir auch noch gar nichts geschadet. Welche absolute Gleichgültigkeit man überhaupt gegen den Tod dabei bekömmt, ist wirklich merkwürdig und ich hätte nie gedacht, daß ich mit so stoischer Ruhe das alles ertragen könnte . . .

Mein persönliches Verhältnis zu Virchow bleibt immer dasselbe, kalt und objektiv, und ist gewiß dadurch für mich höchst ersprießlich, daß ich mir meine schreckliche Subjektivität dabei gründlich abgewöhne. Aber auf die Dauer ist das doch etwas Trauriges. Und wieviel lieber und aufmerksamer würde ich ihm in jeder Hinsicht die kleinen Dienste leisten, wenn er zugleich gemütlich mir etwas näher treten wollte. Wieviel glücklicher ist in dieser Beziehung Lachmann mit seinem göttlichen Johannes Müller daran, bei dem es eine wahre Freude sein muß, auch die langweiligsten und unfruchtbarsten Mühen ihm möglichst abzunehmen! . . .

Ich mache mir jetzt etwas regelmäßiger Bewegung. Mein plethorischer Kadaver hält doch das ewige Sitzen ohne Unterbrechung nicht aus, und der gute Vorsatz, den ganzen Sommer nicht aus der Stadt hinauszugehen und tagaus, tagein auf der Anatomie zu hocken, ist schon dahin. Gewöhnlich gehe ich abends gegen 9 Uhr hinaus unters Käppele und schwimme da im Dämmerlicht oder beim Mondschein 1/2 Stunde im Main, ein ganz göttliches Vergnügen. Der Schwimmen war nächst dem Bergesteigen, Felsenklettern und dem dreibeinigen Herabschurren über schiefgeneigte Schneefelder von jeher mein größtes körperliches Vergnügen; aber seitdem ich die prächtigen Wellen der stürmischen Nordsee und den milden adriatischen Spiegel Venedigs gekostet, wollen die bescheidenen Flüsse nicht mehr recht schmecken. Da versuche ich mir denn den Wellenmangel durch möglichst extreme körperliche Evolutionen zu ersetzen und plätschere und tolle in dem zahmen Wasser wie ein Walfisch an der Harpune. Überhaupt fängt der wilde Übermut der Knabenzeit sich nach langem schlappen Schlafe wieder mächtig an zu regen, und das "Weit, weit in die Welt hinaus!" packt mich oft, als müßte ich augenblicklich aus dem engen Käfig fliehen und auf Reisen oder in den Krieg gehen. Da schaue ich denn sehnsüchtig nach den blauen Bergen der Rhön und des Odenwalds hinüber, die zum hohen Mainufer herüberschimmern, denke, was wohl alles dahinter sein mag, und tröste mich auf bessere Zeiten! Auch der kleine Beckmann hat sehr oft solchen kriegerischen Raptus und wir begeistern uns dann lebhaft in Gedanken an die Heldentaten, die wir im nächsten Krieg vollbringen wollen . . .

Euer alter Ernst.




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Erstellt von Christoph Sommer am 02.07.1999