Ernst Haeckel: Briefe an die Eltern

73. Brief

Würzburg, 3. 12. 1855.

Liebe Eltern!

. . . Was Du, lieber Vater, hinsichtlich des schwerfälligen Stils meiner Reisebeschreibung bemerkst, ist leider nur zu wahr, und ich habe überhaupt bei diesem Versuche jetzt wieder recht gesehen, welch großer Mangel unserer studentischen Tätigkeit darin besteht, daß man lediglich auf ein rein rezeptives Studium angewiesen ist und nicht öfter genötigt ist, auch in freier, selbstständiger Produktion sich zu üben. Das bißchen Stilgewandtheit, das man sich auf dem Gymnasium durch die Ausarbeitung freier, deutscher Aufsätze eben erst erworben hat, geht bei dieser totalen Vernachlässigung des Schreibens bald ganz verloren, und soll man nachher wieder einmal etwas darstellen, so dauert es lange, ehe man nur notdürftig wieder in Gang kommt, und schließlich wird die ganze Geschichte doch schwerfällig und ungenießbar, trotzdem sie viel Zeit gekostet hat. Indes soll mich das nicht abhalten, den Versuch weiter fortzusetzen. In den letzten Wochen konnte ich absolut nicht dazu kommen, da meine kleine Arbeit über Typhus und Tuberkulose, welche ich bei Virchow unternommen, jede freie Minute vollständig absorbierte. Leider hat mich der verwünschte Zeitmangel auch verhindert, ein andres, sehr freundliches Anerbieten von Virchow anzunehmen, welcher mich aufforderte, in seinem Zimmer unter seiner Leitung eine feine, mikroskopisch-anatomische Untersuchung über die "Zytenbildung an den Plexus chorioidei des Gehirns" auszuführen. Ich hatte es mir längst gewünscht, mich einmal in einer solch speziellen Arbeit zu versuchen, und grade die Gelegenheit bei Virchow, dem ich in Hinsicht der feinsten mikroskopischen Arbeit, die ja auch mein Hauptziel ist, den ersten Preis zuerkennen muß, einen solchen ersten, eigenen Versuch zu machen, könnte mir nur äußerst erwünscht sein. Zu meinen großen Leidwesen habe ich aber das günstige Anerbieten doch ausschlagen müssen, da es rein unmöglich ist, die dazu nötige Zeit und Ruhe bei meiner jetzigen, den ganzen Tag in Anspruch nehmenden praktischen medizinischen Beschäftigung irgendwie herauszufinden . . .

In alter, treuer Liebe Euer Ernst.




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Erstellt von Christoph Sommer am 02.07.1999