Ernst Haeckel: Briefe an die Eltern

66. Brief

Mailand, 21. 9. 1855.

Liebste Eltern!

Für Deine Nachrichten von den Verwandten und Bekannten danke ich Dir, lieber Vater, herzlich. Sie haben mich sehr interessiert. So in einem ganz fremden Land, wo man mit keinem Menschen ein Wort sprechen kann, ist ein Brief aus der Heimat doppelt viel wert. Hier im Süden lerne ich erst den hohen, inneren Wert unseres norddeutschen Lebens recht schätzen. Wie herrlich und üppig auch die hiesige südliche Natur ist, und wie sehr sie mich, namentlich im Gegensatz gegen das so sehr kontrastierende Alpenleben (das ich übrigens vorziehe), in Staunen und Bewunderung versetzt hat, so ist mir dagegen das ganze Leben, Volk und Sitte nur um so widerwärtiger und verhaßter. Bis jetzt habe ich alle schlechten Vorurteile über den Italiener bestätigt gefunden. Es lebe unser Norddeutschland! -

An alle Verwandte und Freunde herzliche Grüße. Dir, liebste Mutter, wünsche ich aus vollem Herzen recht schnelle und gründliche Besserung. Seid herzlich umarmt und geküßt von Eurem treuen alten Ernst, der sehr munter und gesund ist. -

22. 9. Nun einiges über meine Reise seit Bozen, im herrlichen Etschtal über Kaltern und Tramin nach Neumarkt. Von da mit Stellwagen nach Trient. Am 14. 9. anfangs bei schrecklichem Regen, dann bei recht schönen Wetter durch das Sarkatal (höchst interessant) nach Riva gegangen, der einzige Tag, wo ich den ganzen Tag über kein deutsches Wort sprach. Am 15. 9. beim schönsten Wetter über den Gardasee mit Dampfschiff, ganz herrlich. Nachmittags in Verona, das mir ganz außerordentlich gefallen hat. Am Sonntag,16. 9., früh nach Venedig, wo ich drei Tage mich möglichst umgesehen habe. Jetzt mache ich statt aller weiteren Expektorationen nur drei große Ausrufungszeichen !!! und sage Euch, daß der ganze Eindruck von Venedig durchaus "märchenhaft" ist. Das ganze Ding kommt mir wie ein Traum vor . . . Die Eindrücke, die man da bekommt, sind so einzig in ihrer Art, daß man lange daran zu verdauen hat. Mir ist von all den fabelhaften Herrlichkeiten noch ganz wüst im Kopf. Gestern habe ich mich hier in Mailand umgesehen, auch eine recht großartige Stadt. Der Dom ist überaus herrlich, das schönste, was ich in der Art je gesehen. Auch in einer sehr schönen Gemäldesammlung habe ich hier lange geschwelgt. Das Äußere der Stadt ist glänzender, als Venedig.




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Erstellt von Christoph Sommer am 02.07.1999