Ernst Haeckel: Briefe an die Eltern

65. Brief

Bozen, Mittwoch, 12. 9. 55.

Liebste Eltern!

Am Sonntag, 9. 9., kam ich glücklich in Meran an, wo ich endlich einmal ganz bestimmt Briefe von Euch zu finden gedachte, da ich Euch im vorletzten Brief noch selber gebeten, mir dahin zu schreiben, und außerdem von allen möglichen Orten, wo vielleicht noch Briefe von Euch liegen konnten, sie mir nach Meran nachzuschicken gebeten hatte. Trotzdem fand sich nicht die Spur von einem Berliner Brief vor, so daß ich also seit Salzburg noch immer ganz ohne Nachricht von Euch und namentlich um Dich, liebes Mutterchen, recht in Sorgen bin. Nun bitte ich Euch aber dringend, mir doch jedenfalls nach Mailand einen Brief, wenn auch nur ganz kurz, zu schicken. Ich denke dort in zehn Tagen einzutreffen, nämlich morgen nach Trient, 14. 9. nach Riva, 15. Gardasee, 16. Venedig, dort drei Tage, 20 Padua, 21. Verona, 22. Mailand, 23. nach Como, 24. Comer See, dann nach dem Luganer See und Lage Maggiore und durch das Engadin, längs dem ganzen Inn hinab nach Innsbruck, wo ich etwa den letzten September ankomme. Dann denke ich die schöne Reise mit acht Tagen in München zu beschließen . . . Hoffentlich habt Ihr die kostbare Heiligenbluter Pflanzensendung aus Lienz richtig erhalten. Mein liebenswürdiger Engländer nahm sie mit nach Innsbruck, wo er sie auf die Post geben wollte. Mit dem Reisebericht blieb ich, wenn ich nicht irre, in Lienz stehen, wo wir am Montag, 3. 9., ankamen. Nachmittag machte ich eine Exkursion auf den dolomitischen Rauchkofl. Am Dienstag, 4. 9., wollte ich nach einem neuen Plan über Seichen durch das Höllenbachtal nach Ampezzo, dann in das Fassatal, die berühmteste geologische Gegend, und über den Schlern und die Seiser Alp ins Grödner Tal und so nach Bozen gehen. Da aber der Regen fortdauerte, mußte ich mit dem Stellwagen nach Brixen fahren. Von da am andern Tag nach Sterzing, wo ich beim scheußlichsten Regen einen ganzen Tag zubrachte und aus Verzweiflung zum Apotheker lief, dem es großen Spaß machte, mir die ganze Einrichtung seiner Apotheke bis ins kleinste Detail zu zeigen, so daß ich hier zum erstenmal einen Begriff von einer Apotheke bekommen habe.

Da das scheußliche Wetter auch Donnerstag, 6. 9., früh noch da war, so gab ich die ganze weitere Reise auf und wollte direkt über Innsbruck nach München fahren. Eben wollte ich in den Stellwagen steigen, als die liebe Sonne hervortrat und den Schneeberg so reizend beschien, daß ich beschloß, wenigstens nach Meran noch vorzudringen (um so mehr, als ich sicher hier Nachricht von Euch erhoffte) und auch einen Versuch aufs Ötztal zu wagen. Ich ging also noch selbigen Tags bei leidlichem Wetter über den Jaufen nach St. Bernhard, übernachtete in Hofers Wirtshaus am Sand und ging am Freitag, 7. 9., über das Timbler Joch nach Sölden im Ötztal, wieder bei so scheußlichem Regen und Nebel, daß der Führer sich verirrte und mich drei Stunden umführte, in ein ganz andres Tal. Das war ein anstrengender Marsch von 14 Stunden, immer steil bergauf, bergab, ebenso einer am andern Tag. Für diese riesige Ausdauer sollte ich denn aber auch glänzend belohnt werden. Am Samtag, 8. 9., war wider alles Erwarten das prachtvollste Wetter. Ich schleppte in aller Eile mein Gepäck durch das prächtige ebene Ötztal sechs Stunden weit bis Fend und ging von da noch am selben Nachmittag über den Hoch-Vernagtferner und Hochjochferner nach Kurzras. Diese Tour ist bis jetzt der Glanzpunkt der ganzen Reise. Alle Beschwerden, die damit verbunden waren, und die ihr nachfolgten und vorausgingen, hätte ich für solch einen unbeschreiblichen Genuß gern doppelt ertragen. Nie war ich so in dem Allerheiligsten der Natur. Zwei gute Stunden schritten wir über den riesigen Hochjochgletscher, rings umgeben von den herrlichsten Schneebergen und Eiszacken, nirgends ein grünes Fleckchen, überall nur den schimmerndsten weißen Schnee und dazwischen die schwarzen Felsenfleckchen. Hier lernte ich erst die prachtvolle, interessante, einzige Gletscherwelt in ihrem ganzen Wesen kennen. Auch ein kleiner Schrecken vermehrte nur noch mein Entzücken. Mitten im Stadium des höchsten Entzückens, als ich den Führer auf die prachtvollen Kontouren der Schneeberge aufmerksam machte, saß ich plötzlich mit dem halben Leib im Schnee. Wir hatten beide nicht eine große, mit Schnee überdeckte, im Wege liegende Gletscherspalte bemerkt, in welche ich (was freilich kein Spaß gewesen wäre) ganz hinabgestürzt wäre, wenn ich nicht glücklicherweise meinen unvergleichlichen Alpstock schon auf dem einen, und den andern Fuß noch auf dem andern Rand der Spalte gehabt hätte. So kam ich mit einem leichten Schrecken und blutigen Händen davon. Wirklich gefährlich war aber das Hinabsteigen vom Gletscher nach Kurzras, da uns dabei die Nacht überfiel. Gott sei Dank kamen wir aber glücklich noch spät an. Am andern Tag lief ich äußerst ermüdet nach dem herrlichen Meran, wo ich zuerst die Südnatur sah, die mich auch hier außerordentlich entzückte, namentlich im Gegensatz zum Polarleben der Ötztaler Eiswelt. Noch am selben Nachmittag (Sonntag, 9. 9.) bestieg ich die Burg Tirol mit der herrlichen Aussicht. Den andern Tag brachte ich auf prächtigen Schloß Lebensberg mit stud. jur. f. Mohr aus Heidelberg (Sohn des Konsist.=Präs. M. aus Dessau) ganz selig zu. Das war einer der herrlichsten, vergnügtesten Tage meines Lebens. Gestern, Dienstag, 11. 9., lief ich mit ihm vormittags hierher, nachmittag auf den Kalvarienberg und ins herrliche Sarntal. Heute allein zu den merkwürdigen Erdpyramiden und noch einmal ins Sarntal. Heut abend bin ich sehr müd, so daß aus dem Brief nicht viel Gescheuts wird. Nun bitte ich nur noch, jetzt gar keine Angst mehr um mich zu haben. Die wirklich irgendwie gefährlichen Partien sind nun alle abgemacht. Auch wegen der Cholera ängstigt Euch ja nicht. Selbst in den größeren Städten der Lombardei kommen täglich nur ein bis höchstens drei Fälle vor, also eigentlich nicht der Rede wert, namentlich für einen Mediziner . . .

Im übrigen wünsche ich, Ihr könntet mich mal sehen, wie herrlich mir das Alleinreisen bekömmt, sowohl körperlich als geistig. Nicht nur Muskeln und Sehnen, sondern auch Charakter, Einschlußkraft, Wille, Mut usw. ist in beständigem Wachsen. Ich bin ein ganz andrer Kerl! Auf Italien freue ich mich sehr. Hier habe ich einen Vorgeschmack davon. Was für ein Gegensatz gegen die Alpenwelt!

Hoffentlich geht es Dir, liebste Mutter, viel besser. Ich muß so sehr viel an Dich denken. Wie gerne möchte ich Euch Lieben alle diese Herrlichkeiten mit genießen lassen. Ich bin sehr glücklich!! Heute abend aber schrecklich müde! Gute Nacht!

Euer Ernst.




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Erstellt von Christoph Sommer am 02.07.1999