Ernst Haeckel: Briefe an die Eltern

61. Brief

Hallstatt, Samstag, 18. 8. 1855.

Liebste Eltern!

Seit vorgestern bin ich also in den Alpen! Seitdem ist mein ganzes Leben eigentlich nur ein großes Ausrufungszeichen. Denn was soll man sagen zu dieser überaus herrlichen Natur, die noch weit, weit schöner und erhabener ist, als ich sie mir gedacht, obwohl ich mir im ganzen ein ziemlich richtiges Bild davon gemacht! Ich müßte Euch eigentlich eine ganze Serie von Interjektionen und Bewunderungsausdrücken, als: prachtvoll, herrlich, göttlich usw. usw. herschreiben, um Euch meine Freude auszudrücken. Und das alles trotz des elendesten Regenwetters, das alle Reisende außer mir zur Verzweiflung bringt. Aber trotzdem sehe ich des Herrlichen genug und sammle Schätze von den prächtigsten Alpenpflänzchen. Sonst geht es mir ganz gut, auch mit dem Marschieren. Heute will ich nur ohne weitläufige Beschreibung der Reise den Brief abschicken, damit Ihr was von mir hört. In einer halben Stunde soll's wieder auf den Marsch gehen.

Mittwoch, 15. 8., früh aus Linz per Eisenbahn bis Gmunden. Unterwegs dabei bei Lambach ausgestiegen und den prächtigen Traunfall gesehen. Dann per Dampfschiff von dem prachtvollen Gmunden nach Traunsee, das herrlichste grüne Wasser. Nachmittag von Ebersee nach Ischl gegangen, mit sechs Prager Studenten, ganz netten Kerlen. In Ischl übernachtet.

Donnerstag, 16. 8. Immerfort im Regen von Ischl hierher gegangen. Von Steg, wo der See anfängt, bis fast zum Rudolfsturm immer auf der Solenleitung hoch an der Seite des Bergs an dem prächtigen steilen Ufer hin. Viele Wasserfälle. Zuletzt der große Mühlbach.

Freitag, 17. 8. Gestern früh die hiesigen Salzsiedereien, dann den Kesseler und Hirsch-Brunnen besehen. Nachmittag mit den sechs Pragern zu den durch die ununterbrochenen Regengüsse ganz prächtigen Wasserfällen des Waldbackstrub. Von hier gingen erstere zurück. Ich machte noch allein eine recht herrliche, wilde Waldpartie nach dem Ursprung des Waldbachs und zu dem Klausenfall. Ganz selig in der herrlichen Natur! Heute morgen will ich nach Gosau. Von da in zwei Tagen nach Salzburg . . . Nächste Tage sende ich Euch auch ein Paket Pflanzen. Später sollt Ihr ausführlicher von mir hören. Jetzt habe ich Eile.

In treuer Liebe Euer alter, ganz glücklicher Ernst.




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Erstellt von Christoph Sommer am 02.07.1999