Ernst Haeckel: Briefe an die Eltern

56. Brief (a)

Würzburg, 5. 5. 1855.

Liebe Eltern!

Vorgestern früh erhielt ich Euren Brief, in dem Ihr mir den Tod unseres lieben, guten Großvaters meldet. Die Trauernachricht kam mir nicht unverhofft. Ich hatte grade die vorangehenden Tage noch recht viel an ihn gedacht und ihm baldige Erlösung von seinem schweren Leiden gewünscht. Ich sah mit einer ängstlichen Unruhe einem Briefe von Euch entgegen, weil ich bestimmt glaubte, daß er das für uns so betrübende und doch für ihn so wünschenswerte melden würde. Es ist aber doch ein sonderbares Ding um das menschliche Herz. Wenn man die letzten Lebensmonate des herrlichen Mannes betrachtete, die ihm nach einem so langen Leben voll soviel Glück, so rastloser, fruchtbarer Tätigkeit, auf die er mit dem glücklichen Bewußtsein, sie immer nur möglichst zur Förderung des Guten angewandt zu haben, zurückblicken konnte, noch soviel Schmerz und schweres Leid bereiteten, die ihm die irdische, schlechte Hülle, in die der unsterbliche Geist hier gebannt ist, noch so recht bitter verleiden mußten, so konnte man ja doch nur den stillen Wunsch hegen, daß er von dieser drückenden Last baldmöglichst befreit würde; und das war auch insbesondere mein Wunsch, daß ich oft gern dem lieben Gott einen Vorwurf daraus gemacht hätte, daß er den prächtigen Greis so lange und schmerzlich leiden ließ. Und doch, nun er wirklich von uns genommen ist, kommt mir das als ein schwerer und unersetzlicher Verlust vor, wie ich es nie vorher gedacht haben würde! Der Großvater bildete doch eigentlich immer noch den Kern der ganzen Familie. Sein Haus bildete das Zentrum, in dem sich alle einzelnen, weit verstreuten Familienglieder immer von Zeit zu Zeit wieder sammelten. Er ragte noch als ehrwürdiger, alter Stammvater, als einziges überlebendes Glied aller meiner Ureltern, aus der grauen alten Zeit in die jüngere, schwächere Generation hinein, der er wohl lebenslang als das würdigste Muster und echteste Vorbild eines echten deutschen Mannes und wahren Christen, ohne viele Worte, aber mit desto mehr Taten, vorschweben sollte. Ein solcher leuchtender Leitstern in der düstern Nacht dieses ärmlichen, dürftigen Erdenlebens, auf dem wir so oft im Finstern herumtappend straucheln und dem Fall nahe sind, und so oft und vielfach irren, soll der herrliche Großvater auch mir beständig sein. Und wenn mein schwacher, schwankender Charakter, der jetzt noch so wenig Festigkeit und Stetigkeit besitzt und durch unnötige Zweifel und Besorgnisse bald hier, bald dorthin getrieben, unsicher und zweifelvoll hin und her schwankt und nicht weiß, wie und wo er das Rechte finden und ergreifen soll, dann soll mir immer sein starker, männlicher Charakter zum leitenden und ermutigenden Beispiel dienen, wie ich auf dem einzigen und rechten Wege zwischen Klippen auf beiden Seiten mutig und hoffnungsvoll durchschreiten soll. Wie zerrissen und zersplittert kommt mir jetzt mit einemmal die ganze große Familie vor, wie abgerissene Glieder eines ganzen Leibes, dessen Haupt gefallen und so die zusammenhaltende Einheit verloren ist. Ich glaube auch in der Tat, daß nun die einzelnen Familien sich immer mehr voneinander verlieren und absondern werden. Der Stamm, in dessen Zentrum alle ihren Halt hatten und sich sammelten, ist ja dahin. Desto inniger und fester wollen aber wir engere Familienglieder zusammenhalten und nicht voneinander lassen. Erst jetzt bei meinen lieben Geschwistern habe ich wieder recht gesehen, was für ein großes, herrliches Glück das ist, mit so guten, lieben Menschen sich innig in brüderlicher Liebe verbunden zu wissen. Gebe Gott seinen Segen dazu, daß wir auch in dem fernern Leben, je weiter wir durch äußere und innere Verhältnisse voneinander entfernt werden, desto fester einer auf den andern bauen und sich ihm ganz anvertrauen . . .

Noch jetzt macht es mir das lebhafteste Vergnügen, an die schöne Wanderung durch den ganzen Ottergrund (am 23. 4.) zurückzudenken. Selten habe ich so innig und tief die unnennbare Macht empfunden, mit der ich untrennbar an den Wunderbau der organischen Natur gekettet und auf innigste mit ihr in meinem ganzen Denken und Treiben, Dichten und Trachten verwachsen bin, als an jenem herrlichen Tage. Machte es nun das schöne Frühlingswetter, oder das Erwachen der jungen Natur aus dem langen Winterschlaf (was für mich immer einen ganz besonderen Reiz gehabt hat), oder die tiefe, von keinem Menschenlaut gestörte Waldeinsamkeit des wilden Felsentales, in dessen Mitte der brausende Gebirgsbach dahinstürzte, oder mochte es endlich die glückliche Kombination aller dieser und noch mehrerer anderer Momente sein, kurz, ich bin selten noch so innig froh in einer selbst schöneren Natur gewesen, habe mich selten in einer so tiefen harmonischen Einheit mit meiner Natur gefühlt. Doch trugen auch wesentlich meine Fortschritte in der Naturwissenschaft im vergangenen Jahr dazu bei, dieses Gefühl zu erhöhen. Konnte ich mir doch von jedem, auch dem kleinsten lebenden Wesen, was mir begegnete, Rechenschaft ablegen, was es sei, oder wenigstens, in welche Klasse, Ordnung, Familie usw. des so unerschöpflich mannigfaltigen Tierreichs es gehöre. Waren mir doch alle die unendlich verschiedenen Pflanzenformen, denen ich aufstieß, so vertraute, alte Bekannte, von denen ich auch mehr als die bloßen Namen wußte. Und grad das, was die Menschen als verächtlichen, schlechten Schmutz verachten und zertreten, der grüne Schlamm an altem Holz im Wasser, der trübe Schaum auf der Oberfläche der Pfützen, weist mir das nicht mein Mikroskop als die gerade herrlichsten und wunderbarsten Gebilde der Schöpfung nach? Nie hatte ich übrigens bis jetzt auch mein treues Mikroskop so schmerzlich vermißt, als in jenen Tagen, wo mir die Gebirgswässer so vieles neues tierisches und pflanzliches interessantes Material zum Mikroskopieren darboten. Auch habe ich mir dort heilig gelobt, nie, wenn es irgend möglich ist auch auf Reisen, meine treue Lebensgefährtin, die mir ein unendliches organisches Leben erschließt, wo das unbewaffnete Auge nur Schutt und Moder sieht, von meiner Seite zu lassen. Übrigens habe ich auch jetzt noch in dem mitgebrachten Schlamm mehrere höchst interessante kleine Tier- und Pflanzenformen aufgefunden.

Ihr könnt kaum glauben, welche Sicherheit und Zuversicht, welchen Lebensmut und Trost mir das Bewußtsein dieser innigen Vertrautheit mit der Natur einflößt. Kaum könnte ich ein anderes geistiges, selbst moralisches Element diesem an die Seite stellen. Ich glaube nicht, daß ich ohne diesen Trost, dessen ich ganz fest versichert bin, den Vorsatz, dies Studium der Medizin durchzuführen, ausführen würde. Das habe ich in der letzten Woche (der ersten meines Hierseins) gleich recht empfunden, wo in der Tat nur wenig fehlte, daß ich ganz in die alte verzweifelte Kleinmut zurückgesunken wäre. Ich hatte in der Tat nicht gedacht, daß der wirkliche Angriff des medizinischen Studiums mir jetzt noch eine so harte und bittere Nuß sein würde. Ich will Euch jetzt mit einer Schilderung der verschiedenen, verzweifelten Stimmungen, die mich namentlich beim Besuch der Kliniken hier wieder befielen, verschonen. Auch braucht Ihr nur meine früheren (namentlich die ersten) Briefe, die ich von hier aus in betreff meines Studiums, meinen horriblen Abscheu vor der praktischen Medizin usw. an Euch schrieb, wieder nachzulesen, um ein deutliches Bild von der "Lust und Liebe" (?) zu bekommen, mit der ich auch jetzt die Sache ansehe und betreibe. Nur ein Unterschied findet sich im Verhältnis gegen damals; aber der ist auch zu groß. Damals gab ich mich ohne festen Halt und Willen aller verzweifelten Stimmungen, die die augenblicklichen Eindrücke hervorriefen, ohne allen Widerstand hin. Jetzt habe ich mir wenigstens einen Anfang von einem ordentlichen ernsten Willen angeschafft (dank sei es dem charakterbildenden Verkehr mit vielen verschiedenen Menschen, den ich im vergangenen Winter genoß), und mit dessen Hilfe (die ja bei jeder Selbstüberwindung stets wächst) denke ich, soll es mir gelingen, den begonnenen Vorsatz, wie schwer es auch werden mag, durchzuführen. Und daß mir das nicht leicht wird, könnt Ihr mir schon glauben. Jetzt, wo ich mit einem Male vollständig in die praktische Medizin hineinkomme, merke ich erst, daß ich eigentlich noch gar nichts davon weiß, und was es heißen soll, all dies scheußliche, geistlose, langweilige und doch auf der andern Seite so schwierige und verantwortungsvolle praktische Zeug zu erlernen! Man muß in der Tat schon eine gute Portion Mut (wie ich ihn mir jüngst erst angeschafft)! besitzen, wenn dieser nicht gleich unter Null sinken soll! Das erste, was ich tun mußte, war der feste Vorsatz, für jetzt, d. h. für die nächsten zwei Jahre, bis wohin ich mit Promotion, Doktorexamen und Staatsexamen (!?), kurz, dem sämtlichen ekelhaften medizinischen Wust fertig werden zu sein, und zwar hoffentlich ihn für immer und ewig los zu sein hoffe, alle ernsten geologischen und botanischen Studien, überhaupt die ganze reine, geliebte Naturwissenschaft vollständig aufzustecken und an den Nagel zu hängen und alle Zeit einzig und ausschließlich auf die widerliche Quacksalberei zu wenden . . .

Ein großer Trost ist es mir, daß ich in Ziegenrück noch den ersten Teil von Goethes Leben (bis nach den Universitätsjahren) gelesen habe, wo durchaus ähnliche Situationen vorkommen. Übrigens besuchte selbst Goethe in Straßburg Kliniken, bloß um sich an den ihn immer höchst unangenehm affizierenden Anblick solcher affröser Geschichten zu gewöhnen. Schon aus diesem Grunde wird der streng durchgeführte Besuch der Kliniken auch mir gewiß nicht ohne Nutzen sein, wenn er mir auch gegenwärtig noch widerwärtiger als alles andre ist. Übrigens, denke ich, wird sich das mit einigen Wochen wohl geben. Goethe sagt: "Geht's doch mit allem wie mit dem Merseburger Bier: anfangs schaudert man davor zurück und dann kann man's nicht mehr lassen!" Dieser Trost, den die Macht der Gewohnheit gibt, soll auch mich ermutigen. (Übrigens bin ich nicht einmal bei einer neulichen großen Operation in Ohnmacht gefallen wie mehrere meiner Kollegen!) Über die Kliniken, Kollegien usw. selbst werde ich Näheres im nächsten Briefe schreiben . . . Übrigens hebt meine Briefe ordentlich auf, welches zugleich mein Tagebuch sein soll. - . . . .

Herzliche Grüße von Eurem alten treuen

Ernst H.




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Erstellt von Christoph Sommer am 02.07.1999