Ernst Haeckel: Briefe an die Eltern

55. Brief

Würzburg, 28. 4. 1855.

. . . Ich ging am Donnerstag (26. 4.), begleitet von einem einarmigen Invaliden, der meine Sachen trug, am Nachmittag von Ziegenrück fort. Wie ich mich überhaupt allemal so schwer von diesem mir liebgewordenen Ort trennen konnte, so ging ich auch diesmal sehr ungern von meinen lieben Geschwistern und der schönen Gebirgsgegend fort. Mein treuer, guter Bruder begleitete mich noch ein Stück. Da ich sehr rasch ging, so kam ich schon um 5 Uhr, statt um 6 Uhr in Schleiz an, wo ich nun noch die Muße genug hatte, mir die Residendenzstadt des größten deutschen Fürstentums von innen und außen genügend zu besehen. Sie ist häßlich und winklig gebaut, höchst kleinstädtisch und macht im ganzen ncihts weniger als den Eindruck einer Residenz. Nur das kleine, aber ganz nette Schloß liegt leidlich hübsch auf einer Anhöhe, von der man einen Überblick über das ganze ärmliche Nest und über die nächsten Höhen hinweg nach den lieben Ziegenrücker Bergen hat. Wie recht kleinstädtisch auch die Bewohner dieser mit schwarz-rot-goldnen Schlagbäumen verzierten Residenz sind, erfuhr ich auch selbst noch an diesem Abend. Nachdem ich genugsam mich umgesehen, suchte ich vergebens an der alten Mauer des Schlosses nach einem Moose oder einem andern Pflänzchen, das ich als botanische Erinnerung an das Fürstentum Schleiz meinem Herbarium einverleiben könnte. Endlich fiel mein Auge auf einen alten Brunnen, der in der Mitte eines Halbzirkels kleiner Ställe, die den Marstall darstellen sollten, in einer kleinen dunklen Grotte befand. Äußerlich war nichts daran zu sehen; innen aber, wo das Wasser beständig in ein Bassin plätscherte, schien mir ein grünes Moos zu flottieren, bei dessen Anblick ich sehnsüchtig dachte: Ach, wenn es doch das Conomitrium Julianum wäre! Es ist dies zugleich eines der schönsten und der seltensten deutschen Moose, welches bisher nur in zwei Brunnen, in Pirna und in Stuttgart, gefunden worden ist. Ich mußte fast über die Kühnheit dieses Wunsches lachen. Wer beschreibt aber mein Erstaunen und meine freudige Überraschung, als ich in dem kleinen, grünen Moose wirklich das bezeichnete, vo mir längst ersehnte Pflänzchen fand. (Wenigstens glaube ich mit bloßem Auge es bestimmt dafür erkannt zu haben. Absolute Gewißheit kann mir erst die mikroskopische Untersuchung geben, welche ich leider noch nicht anstellen konnte.) Natürlich hatte ich nun nichts Eiligeres zu tun, als meine Pinzette herauszuholen, und teils in Gläser zu stopfen, teils auf Papier zu ziehen, was sich nur von dem reizenden Möschen im Brunnen fand. Da dies nicht viel war, so dachte ich, vielleicht auch in andern Brunnen der Stadt dasselbe wiederzufinden und war auch wirklich, nachdem ich fast alle durchsucht hatte, bei dem zweitletzten so glücklich. Als ich nun hier dasselbe Manöver wiederholte und möglichst viel davon in einer Flasche sorgfältig sammelte, bildete sich bald ein Kreis zahlreicher Kinder, die mit Erstaunen das sonderbare Beginnen betrachteten. Nicht lange dauerte es, so gesellten sich auch Gruppen von Erwachsenen hinzu und bald waren fast alle Fenster des kleinen Marktplatzes mit neugierigen Menschen besetzt, die in der Dämmerung mein wunderliches Tun betrachteten und sich in herrlichen Hypothesen darüber ergingen, über die ich mich köstlich amüsierte. "Er hat die Neugierigen zum Narren", sagten die einen, "er sammelt heilsame Kräuter", die andren usw. usw. Endlich konnten es doch ein paar alte Weiber nicht unterlassen, mich zu fragen, "zu was um Himmels willen der grüne Schlamm nur sein sollte", worauf ich ihnen dann mit sehr geheimnisvoller Miene sehr ernsthaft exponierte, daß diese Kräuter, wobei ich auf ein paar andere, unschuldige, im Brunnen befindliche Wasserpflanzen deutete, das wahrhafte und echte Kraut seien, aus dem die Frau Gräff (die Schleizer Wunderdoktorin) ihr Lebenselixir und ihre alle Krankheiten heilenden Kräuterbäder bereitete. Anfangs wollten sie es nicht recht glauben, als ich aber immer sehr eifrig einzupacken fortfuhr und mich dann mit meinen Schätzen entfernte, fielen sie über den armen Brunnen her, den sie bald gründlich von allen Kräutern gereinigt hatten, bis auf mein Moos, das ihren gierigen Händen durch seine Kleinheit entging. Wohl bekomm's ihnen! Jedenfalls hilft's und schadet's den gläubigen Leuten nicht mehr und nicht weniger als die meisten anderen Pflanzen unsres Arzneischatzes. Vielleicht komme ich sogar unschuldigerweise dazu, einige Kranke durch den festen Glauben an Veronica Beccabunga, Nasturtium amphibium und ein paar andre unschuldige Wasserpflänzchen zu heilen! . . .

In aller Liebe Euer treuer

Ernst.




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Erstellt von Christoph Sommer am 02.07.1999