Ernst Haeckel: Briefe an die Eltern

49. Brief

Würzburg, Sonnabend 25. 3. 1854.

Meine herzlieben Eltern!

Was würdet Ihr dazu sagen, wenn ich nächsten Sommer nach Berlin käme? Hoffentlich freut Ihr Euch über diesen jetzt ganz unwiderruflich feststehenden Entschluß, der nicht das flüchtige Werk eines Augenblicks, sondern die Frucht monatelangen Überlegens ist, ebenso ungeheuer wie ich, der ich dies herrliche Glück, den nächsten Sommer wieder im lieben Elternhaus zu verleben, kaum noch fassen und mir denken kann. Wenn Ihr diesen Satz lest, werdet Ihr vermutlich kaum Euren Augen trauen und vielleicht sogar unwillig werden, daß ich den scheinbar so feststehenden Entschluß, nächsten Sommer noch hier zu bleiben, scheinbar so leichtsinnig aufgegeben habe. Dem ist aber nicht so. Erst hört und dann urteilt! Wie Ihr wißt, bewogen mit zum ferneren Hierbleiben namentlich drei Gründe: 1)das Virchowsche Kolleg , 2) die Aussicht, mich bei Kölliker privatissime in der Mikroskopie auszubilden, 3) endlich die Absicht, mit den Sezierübungen fertig zu werden. Die letztere ist dadurch erreicht, daß ich jetzt schon fast ganz fertig bin, jedenfalls in den nächsten 8 Tagen, wenn ich jeden Tag ordentlich benutze, damit fertig zu werden gedenke. Was die schönen Träume über privatissime bei K. Mikroskopieren betrifft, so ist es mit diesem für den nächsten Sommer jedenfalls Essig, aus triftigen Gründen, die ich Euch mündlich näher auseinandersetzen werden, drittens endlich das klassische Kolleg bei Virchow, namentlich der privatissime Kursus der pathologischen Anatomie (den man nur hier findet, sonst nirgends), war der Hauptmagnet, der mich hier noch festhielt; von ihm hoffte ich am meisten. Mit diesem aber verhält es sich folgendermaßen: nach dem einstimmigen Urteile aller älteren Studenten und Dr. med., die jenen Kurs gehört haben und ihn für das beste Kolleg, das es hier gibt, halten, mit einem Wort ganz entzückt davon sind, kann man den wahren Nutzen davon nur haben, wenn man bereits der speziellen Pathologie und Therapie vollkommen Meister ist und selbst schon Kliniker gehört hat. Bei mir ist aber, wie Ihr wißt, keines von beiden der Fall. Ich hatte die kühne Idee gehabt, diese nötigen Kenntnisse, zu deren Erwerbung Jahre gehören, mit gehöriger Ausdauer mir in der kurzen Ferienzeit einzupauken. Jetzt, wo ich diese Idee auszuführen anfing, bin ich von ihrer Unmöglichkeit überzeugt. Auch hatten mir andere dies schon vorher gesagt. Auch haben längst allem meine Bekannten einstimmig mir von jenem Wunsch, schon jetzt das Virchow-Kolleg zu hören abgeraten. Was mich aber jetzt definitiv bestimmt hat, es für jetzt aufzugeben, ist der (gewiß parteiische) Rat Virchows selbst. Jetzt würde ich gar nichts davon haben, als viel, viel verlorene Zeit und Mühe. Endlich hatte ich auch die Absicht, im Sommer die hiesigen Kliniken, sowohl medizinische als chirurgische, zu besuchen, ohne vorher die theoretischen Vorträge darüber gehört zu haben. Allerdings begehen diese Torheit sehr viele Kommilitonen; ich bin jetzt auch von der Unnützlichkeit dieser Absicht überzeugt. Um die Zahl der Umstände, welche mich von hier wegtreiben, vollzumachen, sind in der letzten Zeit hier unerwartete, mir sehr unangenehme Änderungen im Lektionskatalog des nächsten Sommers eingetreten, welche meinen ganzen, allerdings an sich schon sehr törichten Plan zerstört haben, und die Euch des weitern mündlich auseinandersetzen werde. Wenn aber auch alles dies nicht wäre, so sind noch tausend andere mehr äußere Umstände, welche mir das Hierbleiben gänzlich verleiden. Erstens gehen alle meine hiesigen Freunde jetzt fort, die meisten nach Berlin, vor allem mein Hein. Dann ist es aus der neuen Wohnung, die ich mieten wollte, nichts geworden und so noch viel andre kleine Umstände. Nun, meine liebsten Alten, nehmt auf der andern Seite die Vorteile Berlins. Vor allem mein teures, unendlich liebes Elternhaus. Wie ungeheuer ich mich freue, jetzt wieder mit Euch leben zu sollen, kann ich Euch gar nicht sagen. Seit mir diese köstliche Gewißheit geworden ist, befinde ich mich in einem so seligen Freudentaumel, wie ich ihn seit meines Neffen Geburt nicht genossen habe, so daß ich vor lauter purer Freude so in der Stube tollte und herumsprang, daß meine Wirtin ganz erschrocken herüberkam, indem sie glaubte, es sei mir etwas zugestoßen. Dann der Umgang mit den vielen, vielen lieben Freunden und Verwandten, vor allem Tante Berta, dem prächtigen alten Großvater, den ich, wer weiß wie lange noch, genießen kann. Endlich die unendlichen Schätze der Wissenschaft und Kunst, die mir in der "Metropole der Intelligenz" im reichsten Maße zu Gebote stehen, die Museen, die Königliche Bibliothek, der Botanische Garten, dann wieder der höchst anregende und nützliche Umgang mit naturforschenden Freunden, den ich hier fast ganz entbehre. Ferner die klassischen Kollegien, vor allem diejenigen von Johannes Müller, auf die ich wirklich brenne, dann von Weiß, Lichtenstein, Mitscherlich, Ehrenberg usw. usw. Ich bitte Euch, meine allerliebsten Eltern, nehmt dies alles zusammen, und Ihr werdet es unbegreiflich finden, wie ich so lange habe zaudern können, von hier wegzugehen, ebenso unbegreiflich wie alle meine Freunde und ich jetzt selbst . . .

Meine allerleibsten Eltern, antwortet umgehend, was Ihr zu meinem Entschluß sagt. Ich stehe darin meinerseits ganz fest und ändere ihn nicht mehr. Jedenfalls ist soviel wie möglich hier daran herum überlegt worden und schließlich ist er doch allgemein gebilligt worden. Ich denke, Ihr stimmt auch darin ein?! Oder wollt Ihr Euren treuen Jungen, der Euch so herzlich liebt, nicht gern einmal wieder längere Zeit bei Euch haben? . . .




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Erstellt von Christoph Sommer am 02.07.1999