Ernst Haeckel: Briefe an die Eltern

46. Brief

Würzburg, 17. 2. 1854.

Meine lieben, lieben Eltern!

Es ist dies der erste Brief, den Ihr von Eurem zwanzigjährigen Jungen, nunmehr Jüngling, bekommt. Wenn Ihr es auch diesen Zeilen nicht gleich ansehen solltet, daß sie mit dem gesetzten Verstande und der weisen Mäßigung eines Menschen, der bereits zwanzig Lebensjahre hinter sich hat, geschrieben sind, so müßt Ihr doch einstweilen den guten Willen für die Tat nehmen. Denn der Übergang vom Unverstand zum Verstand, von der Torheit zur Weisheit und vom Kinde zum Manne macht sich in der Tat nicht so plötzlich und rasch, wie man dies wohl wünschen möchte und sich vorsetzt. Daß aber der ernsteste und festeste Vorsatz, der beste und aufrichtigste Wille dazu bei mir vorhanden ist, daß ich jetzt ernstlich mit allen Kräften danach streben werde, ein recht tüchtiger, braver Mann zu werden, mir die Energie und Selbstständigkeit, die Beharrlichkeit und Zuversicht, die dazu nötig ist, zu erwerben, davon könnt Ihr vollkommen überzeugt sein und Ihr werdet Euch in Eurem alten Jungen nicht getäuscht finden. Es sind in der Tat noch viele und große Fehler, die ich an mir zu verbessern habe. Dahin rechne ich vor allem meine schwankende Unentschlossenheit und Unselbstständigkeit, die mich nie zu einem selbstständigen, freien und festen Entschluß kommen läßt, dann der hoffnungs- und zuversichtslose Blick in die Zukunft, der immer den schlimmsten und traurigsten Ausgang von jedem Unternehmen kommen sieht und die Tatkraft lähmt, indem er alles Selbstvertrauen raubt. Mein schlimmster Fehler ist aber vielleicht eine eigentümliche Art von Egoismus, der sich z. B. im Umgange mit andern Menschen, d. h. in meiner unüberwindlichen Menschenscheu, zeigt und auch wohl Ursache ist, daß ich bis jetzt immer vergeblich nach einem rechten Freunde mich umgesehen habe. Ihr seht hieraus wenigstens, liebe Eltern, daß ich meine schwachen Seiten recht wohl kenne; wie sollte ich dies auch nicht, da Euer treuer Elternsinn, Eure liebevolle Mühe, mich zu einem besseren und vollkommeneren Menschen herauszubilden, wofür ich Euch nie genug dankbar sein kann, mich stets auf diese Fehler aufmerksam macht, wie es auch die Bemerkungen meiner nähern Bekannten oft genug tun. Ein anderes ist es freilich, seine Fehler zu erkennen, ein anderes, sie wirklich zu bessern. Mit Gottes gnädiger Hilfe, denke ich, wird aber auch die wirkliche Besserung und Vervollkommnung der wahren Erkenntnis nachfolgen, und ich hoffe fest zu Gott, daß es mir unter seinem kräftigen Beistand gelingen wird, diese Schwachheiten immer mehr zu überwinden, endlich doch noch ein guter und tüchtiger Mann zu werden, und Euch, meine innigst geliebten Eltern, noch recht viele und große Freude zu machen, wozu er seinen Segen gebe! -

Eure liebevollen Briefe und Geschenke erhielt ich vorgestern früh und habe mich recht innig darüber gefreut. Wie bin ich doch vor so vielen anderen Menschen mit so guten, treuen Eltern beglückt, und welche hohen und reinen Genüsse sind mir in dem geistigen Umgang mit ihnen vergönnt, deren wohl die meisten andern, leider, entbehren müssen. Wie wenige von allen Altersgenossen, die ich hier kennengelernt habe, haben das Glück, in einer ununterbrochenen geistigen Gemeinschaft mit dem Elternhaus zu stehen und ganz mit ihm verwachsen zu sein, wie ich dessen stolz mich freuen kann. Was entbehren diese Armen nicht! Gewiß, liebe Eltern, dies sehe ich unbedingt als das höchste und nicht allein irdische, sondern auch ewige Gut, das mir Gott geschenkt hat, an, daß ich so unzertrennbar fest und innig mit Euch verwachsen bin und mir eine freie, geistige Mitteilung und Hingabe ohne Euch gar nicht denken kann. Da habe ich wohl täglich tausendmal Ursache, Gott inbrünstig für das Glück des Familienlebens zu danken und ihn zu bitten, daß er es mir noch recht, recht lange erhalten möge! Es hätte der äußeren materiellen Zeichen Eurer Liebe am gestrigen Tage wirklich nicht bedurft, um mich recht voll und tief des herrlichen Schatzes Eurer Elternliebe erfreuen und genießen zu lassen. Ich weiß, daß Ihr gewiß an meinem ganzen Festtage so mit Herz und Sinn bei mir gewesen seid, wie ich bei Euch, und daß Ihr mit mir für mich zu Gott bebetet habt. Doch auch für jene äußern Liebeszeichen habt den besten Dank; sie haben mich um so mehr erfreut, als sie ganz unerwartet kamen . . .

Du freust Dich, liebe Mutter, daß ich an Hein einen Herzensfreund, wie ich ihn mir längst gewünscht, gefunden habe. Zum Teil ist das allerdings richtig. Ich wenigstens wüßte unter allen Altersgenossen keinen, den ich in diesem Maße liebe und achte. Es ist wirklich ein gar zu lieber Mensch, für mich das wahre Ideal eines Studenten, wie er sein soll (wie ich aber leider gar nicht bin)! Was ich besonders an ihm bewundre, ist, daß er in allem das rechte Maß zu halten versteht, im Arbeiten wie im Vergnügen, in der Zeit, die er zu seiner eignen Ausbildung, wie in der, die er auf den Umgang mit andern Menschen verwendet. Trotzdem er grade kein besonders ausgezeichnetes Genie ist (obwohl ein sehr klarer und offner Kopf) und auch nicht einen unsinnigen Fleiß entwickelt (der durch zu große Anstrengung selbst wieder entkräftet), lernt und weiß er doch ungemein viel, kommt in allen Kollegien dem Vortrage vollständig nach und ist immer und überall bewandert und zu Hause, was man auch fragen mag. Dabei genießt er sein Studentenleben so recht mit jugendlicher Frische, mit immer heitern offnen Sinn, wie ich es mir immer als Ideal ausmale, das ich gar zu gern verwirklichen möchte, wenn sich mir nicht tausend "Abers" entgegendrängten . . .

Um meine Vorsätze auch wirklich einmal zu verwirklichen, habe ich gleich die ersten beiden Tage meines einundzwanzigsten Lebensjahres recht munter und hoffnungsvoll angetreten, wie ich überhaupt schon in den letzten Wochen immer in einer ziemliche fidelen Stimmung mich befand, was ich allein dem Vortrage verdanke, den ich im medizinischen Kränzchen zu halten gezwungen bin. Dieser hat mir nämlich nach langer Zeit, in welcher ich der Botanik, anderen Sternen, besonders der Zootomie folgend, etwas ungetreu geworden war, wieder einmal recht tief in diese herrliche Lieblingswissenschaft einzudringen Gelegenheit gegeben, und zwar grade in eins der interessantesten Felder, welches mir bisher ziemlich unbekannt war, in die subtile Kryptogamenkunde. Nachdem ich den Vortrag über Pflanzengeographie aufgegeben, wandte ich mich der Lehre von der Befruchtung dieser höchst interessanten Pflanzen zu, welche bis jetzt noch sehr in Dunkel gehüllt war und wo erst die neuesten Entdeckungen ganz neue und höchst glänzende und merkwürdige Resultate erzielt worden sind. Namentlich habe ich da ein ganz neues, von Schenk geborgtes Werk von Hofmeister studiert, welches mich in die höchste Bewunderung, das größte Staunen und Entzücken versetzt hat, sowohl durch die neuen, großartigen, darin enthaltenen Entdeckungen als durch den wirklich unübertrefflichen Grad von Gründlichkeit und Genauigkeit, der in der Untersuchung der Entwicklung jeder einzelnen Zelle sich zeigt und ganz für den deutschen, unermüdlichen Fleiß charakteristisch ist. Freilich hat diese klassiche Arbeit mit ihren höchst subtilen mikroskopischen Untersuchungen auch den Verfasser fast sein ganzes Augenlich gekostet, so daß er jetzt fast gar nichts mehr sehen kann. Nur gut, daß er wenigstens sehr vermögend ist! Dieser merkwürdige Mann war früher Buchhändler in Leipzig und besorgte am Tage seine Geschäfte, während er die Nacht durch zur mikroskopischen Untersuchung der Moose, Farnkräuter usw. und ihrer werkwürdigen Lebens- und Fortpflanzungserscheinungen verwandte. Später gab er sich ganz diesem herrlichen Fache hin, verdarb sich dabei aber durch allzu feine und anstrengende Präparationen die Augen. Dafür hat er freilich ein klassisches Werk geliefert.

Bei dieser Gelegenheit habe ich auch einige andere schöne, botanische Spezialwerke gelesen, namentlich Schachts "Pflanzenzelle", ein nicht minder ausgezeichnetes Werk, welches auf A. v. Humboldts Empfehlung die goldne Medaille erhalten hat und welches ich mir zum Geburtstag für die 5 Gulden, die ihr mir geschenkt, anschaffen will. Es war ein längst ersehnter Schatz, aus dem ich sehr viel lernen kann. Habt den schönsten Dank dafür! - Ich kann Euch gar nicht sagen, welche hohe Seligkeit das ist, wenn ich einmal, wie bei dieser Gelegenheit, mich ganz ungehindert in diese Schätze vertiefen kann. Es hüpft mir dann immer im eigentlichen Sinn des Wortes das Herz im Leibe, und ich möchte laut aufjubeln, vor allem aber Euch selbst diese reine Freude mitempfinden lassen. Solche Seligkeit habe ich jetzt auch öfter genossen, wenn ich mir auf der Universitätsbibliothek (wo ich täglich fast eine Stunde bin) kostbare Prachtwerke angesehen habe, z. B. Humboldts "Atlas pittoresque" von seiner Reise, "Vue des cordill*res" , Novae species plantarum" , "Plantae aequinoctiales" usw., dann Cordas "Prachtflora der Pilze und Schimmelbildungen", vor allem aber ein Ding, was ich wirklich verschlungen habe und gar nicht satt kriegen kann. Es sind dies die wegen ihrer großen Naturtreue von Humboldt sehr gelobten "Vegetationsansichten von Kittlitz", 24 Stahlstiche in Atlasform, welche Landschaften aus dem Stillen Meer und überhaupt der Tropengegenden darstellen, und worin die wundervolle Tropenvegetation wirklich zum Verlieben schön und reizend dargestellt ist. Ich bin auch wirklich ganz vollständig verliebt in diese Pracht der Tropenpflanzen, kann mir mein größtes Glück nur darin denken, sie einmal von Angesicht zu Angesicht zu genießen, und bin dadurch wirklich in eine fixe Idee, wenn Ihr es so nennen wollt (meine Freunde nennen es "sanguinische Tollheit"), tief hineingeraten, welche mir, obgleich ich selbst an ihrer Ausführbarkeit zweifeln muß, doch insofern unendlich wert ist, als ich jetzt wieder darin einen festen Angelpunkt habe, um den sich alle meine Wünsche für die Zukunft drehen, und an dem sich die herrlichsten bunten Luftschlösser und Phantasiegebilde aufbauen können. Es will dieser kühne Wunsch, von dessen Ausführung ich Tag und Nacht träume, nichts mehr und nichts weniger, als wirklich die schon als Kind gehegten Träume von einer großen Reise in die Tropen verwirklichen, was also nichts Neues, sonders etwas ganz Altes ist. Nur treten diese Gedankenrezidive, wie alle Rückfälle, mit verstärkter Heftigkeit auf und sind jetzt nach dem Umständen in etwas eigentümlicher Weise modifiziert. Da mir nämlich mein Verstand folgendes bei ruhiger Überlegung sagt: "Du hast nicht die Mittel, eine solche Reise auf eigene Kosten zu machen, du hast nicht die Fähigkeiten und Talente, um sie auf Staatskosten (etwa vermittels eines Reisestipendiums) machen zu können, du hast endlich einen kranken Fuß, der dir diese Reise als Wanderung zu machen verbietet - auf der andern Seite siehst du wohl, daß mit dir in Deutschland, namentlich als praktischer Arzt, nichts zu machen ist" -, in Erwägung nämlich dieser kalten Gedanken habe ich folgenden heißen Plan entworfen (lacht nicht darüber!): Ich studiere jetzt notdürftig meine Medizin fertig, so daß ich den Dr. machen kann, vervollkommne mich in Botanik, Zoologie, Mikroskopie, Anatomie usw. soviel als möglich und suche dann eine Stelle als Schiffsarzt zu bekommen, um freie Überfahrt nach irgendeinem Tropenlande (nach Brasilien, Madagaskar, Borneo oder irgendein andres) zu erhalten, wo ich mich dann mit meiner Frau (nämlich meinem unzertrennlichen Mikroskop) in einen beliebigen Urwald hinsetze und nach Leibeskräften Tiere und Pflanzen anatomiere und mikroskopiere, alle möglichen zoologischen, botanischen, geographischen usw. Kenntnisse sammle, so daß mir diese Stoffe genug geben, um etwas Ordentliches zu leisten. Nahrungsmittel findet man dort hinreichend im Urwald (wie schon ein einziges kleines Stückchen mit Pisang bepflanzt für die Erhaltung eines einzigen Menschen genügt); nötigenfalls werde ich mir das Nötige durch Quacksalberei als praktischer Arzt (!), Wundarzt (!!) und Geburtshelfer (!!!) unter den Indianern verdienen. Habe ich mich dann ein paar Jahre lang hinlänglich an der herrlichen Flora und Fauna der Tropen satt gegessen und studiert, so versuche ich auf dieselbe Weise wieder zurückzukommen und kann dann entweder doch noch eine Privatdozentenstelle erhalten oder mir sonstwie durch Schreibereien ein notdürftiges Brot verdienen! -

Lache nicht, teurer Vater, ängstige Dich nicht, liebe Mutter, wenn Ihr diesen kollossalen Blödsinn lest. Noch ist die Ausführung desselben nicht da! Vorläufig male ich mir das Robinsonsche Projekt nur mit den schönsten, meiner Phantasie zu Gebote stehenden Farben aus, weil es mir die einzige Art und Weise zu sein scheint, in der noch etwas aus mir werden kann, obgleich ich selbst an der Möglichkeit der Ausführung zweifle. Dieser Traum, dies schöne, goldene Luftschloß befriedigt aber meinen Sinn gegenwärtig in jeder Weise. Er zeigt mir nämlich einen festen Zielpunkt, auf den ich lossteuern muß, er spiegelt mir die Verwirklichung meiner Lieblingswünsche vor, er spornt mich an, mich in den Lieblingswissenschaften möglichst zu vervollkommnen, er zwingt mich endlich moralisch, die verhaßte Medizin bis zu Ende fortzutreiben. In jeder dieser Hinsichten, namentlich aber in der letztern, kann diese schöne Traum mir nur nützlich sein, wenn auch aus ihm selbst nichts werden sollte, wie ich fast fürchte. Jedenfalls ist es noch lange Zeit bis dahin, wo ich mich definitiv entscheiden muß. Ich sehe aber wirklich nicht ein, wie ich anders zu etwas kommen sollte. Auch tritt mir diese fixe Idee mit jedem Male, wo ich irgend etwas dahin Einschlagendes sehe oder lese (wie z. B. gestern, wo ich mit dem größten Entzücken die Abbildungen tropischer Landschaften und Bäume in dem Prachtwerk von Martius über die Palmen angesehen habe), nur um so lebhafter und eindringlicher entgegen, so daß ich mich schon ganz darin eingelebt habe und wie vernarrt darin bin . . .

Nun liebe Eltern, nochmals für alle Eure Liebe und besonders noch dir, liebstes Mütterchen, den herzlichsten Dank von Eurem treuen

Ernst H.




Inhaltsverzeichnis


Brief 45................................Brief 47




Diese Seite ist Teil von Kurt Stübers online library
Erstellt von Christoph Sommer am 02.07.1999