Ernst Haeckel: Briefe an die Eltern

45. Brief

Würzburg, 16. Februar 1854. E. H:

(Eigene Buß- Predigt des 20jährigen.)

Lieber Ernst Haeckel!

Du beginnst heute das dritte Dezennium deines irdischen Lebens, und es ist deine Pflicht, an diesem hochwichtigen Tage einen Blick auf dein vergangenes Dasein und deine zukünftigen Tage zu werfen, auf ersteres, um Gott für die unendlichen Wohltaten zu danken, die er dir hat zuteil werden lassen, und mit Reue zu empfinden, wie wenig du dich deren wert gezeigt hat, auf letztere aber, um hinfort andere Vorsätze für ein besseres, neues Leben zu fassen und dich ganz Gottes gnädiger Führung anzuvertrauen. Dein erster Gedanke am heutigen Tage muß inniger, aufrichtiger Dank gegen Gott sein, der dir die rauhe Bahn des Erdenlebens durch so viele große Güter Leibes und der Seele verschönert und erleichtert hat. Er hat dir die trefflichsten, rechtschaffendsten und liebevollsten Eltern geschenkt, die besten, treuesten, redlichsten Geschwister und Verwandte; er hat dir einen unendlich starken und süßen Trieb zur herrlichsten aller Wissenschaften, zur Erkenntnis seiner zahllosen Wunderwerke in der Natur, in deren wunderbarem Bau und Leben, im kleinsten wie im größten, sich seine Allmacht und Weisheit offenbart, eingeflößt; er hat dir die Kräfte, Mittel und Fähigkeiten verliehen, diesem tiefen Triebe folgend, dein ganzes Leben der herrlichen Naturwissenschaft zu weihen! Und wie hast du dich bis jetzt gegenüber diesen herrlichen Gottesgeschenken gezeigt? Undankbar, unerkenntlich, kleinmütig, verzweifelt, egoistisch! Du hast deine Eltern, die dich so herzlich und innig lieben, durch dein zweifelvolles, schwankendes Wesen öfters betrübt als erfreut; du hast die Freunde, die dir nahe treten wollten, durch dein einseitiges, eigensüchtiges und doch unentschiedenes, oft kindisches, unmännliches und lächerliches Treiben von dir abgestoßen!

Das muß alles von jetzt an durchaus anders werden! Du trittst heute dein 20. Lebensjahr an und wirst dadurch zum Mann! zum deutschen, christlichen Mann! Beweise dich aber auch dieser Ehre würdig. Lege das kindische, unentschlossene, unmännliche Wesen von dir ab; du machst dich dadurch lächerlich und verächtlich. Wozu gab dir Gott die freie Rede, deine unbeschränkte Freiheit als persönlicher Mensch? Gewiß nicht, um dich überall schwach und erbärmlich dem Trotz und der Willkür anderer zu unterwerfen. Denke an deinen Vater, wie er freimütig und unverhohlen Wahrheit und Recht verteidigt, wo und wann es gilt. Und wie zeigst du dich dieses prächtigen Mannes wert? Du schweigst, wo du reden solltest, zitterst, wo du vor edlem Zorn erbeben sollstest; wenn andere in deiner Gegenwart lächerliche, unwerte Reden führen oder Dinge tun, die dir dein Gewissen als Unrecht bezeichnet, so bist du still und unterwirfst dich der Menge oder stimmst gar gezwungen in ihr Unwesen ein. Einen solchen moralischen Zwang muß es aber für einen freien Jüngling nicht geben. Frei und ungehindert soll er vor den Niedrigsten wie vor den Höchsten Wahrheit und Recht verteidigen, keines Menschen Drohen und Rache fürchten. Denke daran, was Christus gesagt hat: "Wer nicht für mich ist, der ist wider mich!" Oder was ein andrer Spruch der Heiligen Schrift sagt: "Fürchte Gott, tue Recht und scheue niemand!" oder was dir dein trefflicher Freund Reinhold Hein immer zuruft: "Vor Menschen sei ein Mann, vor Gott ein Kind!" Ja, dies suche zu sein oder zu werden! Du hast dich bisher umgekehrt verhalten, wie alles verkehrt und am unrechten Ende angefangen ist, was du treibst. Während du dich den Menschen als schwaches Kind zeigtest, erschienst du vor Gott als Mann, aber nicht als der rechte, demütige, lautere Mann, sondern trotzig, undankbar, mürrisch, voll Selbstrechtfertigung, voll Vertrauenslosigkeit, ohne die rechte, christliche Hoffnung und Liebe. Auch hierin mußt du dich von Grund aus ändern!

Vor allem fasse Hoffnung, Mut, Zuversicht, das festeste Gottvertrauen und das rechte Selbstvertrauen. Wenn dir auch oft, nur allzuoft in vielen trüben, sorgenvollen Stunden die ganzen Aussichte, Umstände und verwickelten Kombinationen deines äußern künftigen Lebens ganz trost- und hoffnungslos erscheinen, wenn sich deinen Wünschen und allen Plänen, die du dir ausspinnst und mit den glühendsten Farben hoffender Jugend ausmalst, immer und immer wieder ein niederschlagendes und vernichtendes "Aber" entgegendrängt, so denke doch stets daran, daß nicht du, sondern Gott alle diese unentwirrbaren Knoten zu lösen hat und sie gewiß mit seiner wunderbaren Weisheit und Güte aufs herrlichste lösen wird. Und wenn dir aller Ausweg verschlossen scheint und du mußt dich doch entschließen, einen festen, bestimmten Weg ein für allemal zu wählen, dann flehe nur inbrünstig zu Gott; er wird dich nicht im Stiche lassen, sondern dich den besten, sichersten und passendsten Weg aus diesem Wirrsal hinausführen. Also nur Hoffnung und Glauben! Denke an den Wahlspruch Oliver Cromwells: "Derjenige kommt am weitesten, der nicht weiß, wohin er will!" Vertrau auf Gott, er wird dich retten und führen, mit Sorgen und eigner Pein, mit eitler, schmerzensvoller und doch so unnützer Selbstquälerei läßt er sich gar nichts nehmen; es muß erbeten sein! -

Aber wie dir bisher der rechte, makellose und unumstößliche Glaube, die unbesiegbare, unerschütterliche christliche Hoffnung gemangelt haben, so ist es auch mit wahrer, reiner, christlicher Liebe, der Liebe gegen die Nächsten, gegen alle Menschen; deine Eltern und Verwandten liebst du freilich aufs zärtlichste und innigste; du möchtest gern Gut und Blut für sie aufgeben! Aber die Seinigen liebt auch der Schlechteste! Wie steht es aber mit deinem Verhalten gegen andere Menschen, die doch Gott auch zu deinen Brüdern in Christo gesetzt hat? Du mußt dir ohne weiteres gestehen, daß dein bisheriges Verhalten gegen sie nichts weniger als das rechte gewesen ist. Stets ist bei deinem Verhalten gegen andere, fremde Leute ein kalter, eigensüchtiger Egoismus, eine lieb- und rücksichtslose Verschlossenheit sichtbar geworden. Ist es da ein Wunder, daß du keinen rechten, aufrichtigen Freund finden kannst? Wirf einen Blick auf all dein Tun! Denkst du nicht immer zuerst mit sorgenvoller Selbstsucht an deinen leiblichen und geistigen Vorteil und erst nachher, oder auch dann nicht einmal, an die andern? Sollst du zum Vergnügen anderer, zu ihrem Nutzen beitragen, laden sie dich auf die freundlichste Weise ein, ihre Gesellschaft zu teilen, so ist dir das kleinste Opfer an Geld und vor allem an Zeit zu groß; immer denkst du; "Diese Zeit kann ich weit besser und für mich heilsamer anwenden! Was kann ich währenddessen alles tun und ausführen!" Allerdings kannst du die Zeit, die du andern Menschen widmen sollst, auch ganz allein für dich behalten und auf die Ausbildung deines Wissens und Verstandes wenden. Aber denke daran, daß auch ein anderes Gebiet des Geisteslebens kultiviert werden muß, und dies ist der Verkehr mit andern Menschen, unter welche uns Gott nicht ohne weise Absicht gesetzt hat, wie dir dein trefflicher Vater so oft sagt. Auch hier, im Umgang und Gespräch mit andern, bildest du deinen Geist aus, und zwar in der mannigfachsten, ausgebreitesten Richtung, wie es dir auf deiner trüben Studierstube, wo du dich nur zum Büchergelehrten ausbildest, nicht möglich ist. Allerdings hast du einen besonderen Trieb zur Einsamkeit, zur einsamen innigen Betrachtung der Gotteswunder in der Natur, in welcher du dich am wohlsten und ruhigsten fühlst. Aber bedenke, daß zu derselben Natur auch die Menschen gehören, gegen welche uns Gott, indem er uns in ihre Mitte setzte, mannigfache Verpflichtungen aufgelegt hat. Laß also jenes geizige, egoistische Wesen fahren, welches du dir selbst als Gewissenhaftigkeit vorspiegelst. Wenn du so auf dich selbst zurückgezogen bleiben willst, so wirst du nie deine Mission als Christenmensch gegen deine christlichen Mitbrüder erfüllen; und mit welchem Antlitz wirst du einst vor Gott treten, wenn er dir das anvertraute Pfund abverlangt, mit welchem du gewuchert haben sollst? -

Also noch einmal laß es dir gesagt sein: Liebe, Glaube, Hoffnung, diese drei köstlichen Wahlworte im Reiche Gottes, suche in dir zum Leben und Wesen zu bringen; laß fahren den Egoismus, den Kleinmut, die Selbstquälerei! Habe Gott stets vor Augen und im Herzen! Bete und arbeite! Dies ruft dir von ganzem Herzen beim Beginn deines 21. Jahres zu

Dein besseres Ich!




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Erstellt von Christoph Sommer am 01.07.1999