Ernst Haeckel: Briefe an die Eltern

38. Brief

Würzburg, 5. 11. 1853.

Mein liebes Pärchen!

. . . Die Würzburger sind im allgemeinen sehr außer sich, daß in diesem Semester so wenig "Herrn Doktors" kommen, kaum halb so viel als im vorigen Semester, nicht einmal 300 Mediziner! Es liegt dies daran, daß die beiden Hauptstellen im Juliuspital, die Professuren der Therapie und Chirurgie und der damit verbundenen Kliniken, immer noch von den alten, ziemlich untauglich gewordenen Leuten, dem stockblinden Marcus, und dem kindischen Textor, besetzt sind, welche jetzt endlich ganz abgesetzt werden sollen. Nun haben diese aber doch noch bleiben müssen, da Dietrich aus Erlangen und Ried aus Jena die Stellen abgelehnt haben. Deshalb kommen die Leute jetzt nur her, um Virchow (der wirklich in seiner Art ganz einzig und isoliert dasteht) und höchstens Kölliker zu hören, nicht aber wegen des schlecht besetzten Juliuspitals, das sonst die allermeisten anzog. Auch von meinen Bekannten sind viele nicht wiedergekommen, z. B. Bertheau, Zerroni usw. Dagegen habe ich an Hein, mit dem ich alle Kollegia gemeinschaftlich höre und meist neben ihm sitze, sowie an dem älteren Arnold von Frangue einen ziemlich nahen und netten Umgang sowie eine Masse äußerliche Bekannte. An einem rechten Intimus, den ich so sehr wünsche und vermisse, fehlt es mir dagegen noch gänzlich, und ich werde wohl nie einen finden. Frangue hat eine sehr schöne Tiroler Reise gemacht und mir dabei mit seinen Erzählungen wieder eine solche unruhige Reiselust und Alpensehnsucht, die ohnehin schon in den ganzen Ferien in mir rumorte, erweckt, daß ich törichterweise mir vornahm, es koste, was es wolle, nächsten Herbst, ehe ich für immer nach Norddeutschland zurückkehre, die Alpen sehen zu müssen und wäre es auch nur aus der Ferne, wie Moses das Gelobte Land! - . . .

Mit dem Moosesammeln ist es jetzt für einige Zeit vorbei. Die vielen Kollegien werden jetzt kaum Zeit genug bekommen können. In dieser Woche haben schon mehrere angefangen; die eigentliche Masse, und zwar das Grauenhafteste (nämlich spezielle Pathologie, wo ich auch anfangen werde, im chemischen Laboratorium bei Scherer praktisch zu arbeiten, d. h. zu kochen, Kleider anzubrennen, zu ätzen, zu explodieren usw. . . .

Seid herzlich umarmt und geküßt von Eurem treuen

Dankbaren Bruder Ernst.




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Erstellt von Christoph Sommer am 01.07.1999