Ernst Haeckel: Briefe an die Eltern

34. Brief

Ziegenrück, 4. 10. 1853.

Meine liebste Alte!

So ist denn nun die schöne Zeit unseres Zusammenseins einmal wieder vorbei und ich muß wieder an Dich schreiben, was mir anfangs immer recht schwer wird, weil ich Dir alles gar zu gerne gleich direkt mitteilen möchte. Indes hat mir doch das Zusammensein mit meinen beiden lieben Geschwistern die schwere Trennung von Euch diesmal etwas erleichtert, und es ist ja auch nett, wenn wir uns brieflich einander mitteilen können. Die ersten Tage nach Eurer Abreise wollte alles gar nicht recht gehen; Ihr fehltet uns überall; jetzt haben wir uns schon wieder eingelebt. Der Tag Eurer Abreise war für uns ein wahrer Pechtag. Nichts wollte recht gehen . . .

Den meisten Kummer und das größte Pech hatte aber ich. Denn erstens waren über Nacht wieder zwei von meinen so glücklich vermittels künstlicher Frühgeburt ans Licht der Welt beförderten Salamänderchen gestorben, so daß ich von meinen 30 Embryonen nur noch neun lebend habe. Zweitens hatte der eine Krebs während derselben Nacht seine edle Seele ausgehaucht und der zweite folgte ihm am Vormittag nach. Drittens endlich quälte ich mich den ganzen Vormittag vergeblich mit der Bestimmung eines allerliebsten Mooses ab, dessen Name ich heute noch nicht weiß. . . . Den folgenden Tag ging es schon besser. Er fing gleich für mich mit einem sehr schönen Ereignis an. Der Doktor schickte mir nämlich eine allerliebste Schlange, die er unterwegs gefangen hatte. Der Tierchen ist allerliebst und wird schon ganz zahm, säuft z. B. beim Kaffeetrinken sehr nett Milch aus der Untertasse. Nachmittag fand ich selbst auf einem Spaziergang in der Sornitz viele Salamander, so daß ich jetzt das ganze Waschbecken voll habe. Nach dem Regen kommen sie massenweis hervor. Wenn ich erst ein paar Dutzend voll habe, will ich sie einmachen (nämlich in Spiritus, um sie mitzunehmen). Am Sonntag fand ich wieder ein Paar in der dritten Biegung des Saaltals nach der Linkenmühle zu. Es war nachmittags sehr schön, und ich machte mit Karl einen sehr weiten Spaziergang in die Windungen des Saaltals hinter dem Conrad, wo unten die Fischerhütte liegt. . . .

Die täglichen Spaziergänge bekommen mir sehr gut. Ich fühle mich jetzt eigentlich sehr wohl, selbst abgesehen von dem allerliebsten Leben hier, dessen Herrlichkeit Ihr selbst nun kennengelernt habt. Es sollte mir orgentlich leid tun, wenn die Lieben nun schon so bald wieder aus Ziegenrück, diesem Urparadies der "unzivilisierten Menschheit", forkommen sollten, wie es bei dem schönen Anerbieten, das Karl heute erhalten hat, gar nicht unmöglich ist . . .




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Erstellt von Christoph Sommer am 01.07.1999