Ernst Haeckel: Briefe an die Eltern

14. Brief

Würzburg, 20. 1. 1853.

Liebste Eltern!

. . , Diese Woche habe ich auch noch eine Entdeckung gemacht, die fruchtbar sein kann. Ganz zufällig erfuhr ich nämlich, daß hier jeden Mittwoch und Sonnabend von 4-6 Uhr das ganze Jahr hindurch öffentlich ein "Musikinstitut höherer Art" seine Stücke produziert, und zwar ganz ausschließlich die klassischen Symphonien von Beethoven, Mozart und Haydn, zuweilen auch etwas von Mendelssohn. Der Direktor ist der eigens dazu angestellte Universitätsprofessor Fröhlich. Natürlich ging ich gleich hin und es gefiel mir sehr (d. h. soweit mir Musik überhaupt gefallen kann!). Der sehr große Saal wimmelte von Kommilitonen; ich will auch öfter hingehen.

Nun hätte ich Euch noch eine Hauptgeschichte zu erzählen, nämlich von dem großartigen solennen Fackelzug, den wir Mittwoch, den 12ten Januar dem hochgefeierten Virchow gebracht haben. Der Grund dazu war teils eine Anerkennung seiner ausgezeichneten wissenschaftlichen Wirksamkeit überhaupt, teils ein Dank dafür, daß er einen ehrenvollen Ruf nach Zürich (der ihm auch viel materielle Vorteile geboten hätte) nicht angenommen hatte. (NB. Da er infolgedessen um eine Gehaltserhöhung von 400 fl. wenigstens angetragen hatte, erhielt er von der königl. bayrischen Regierung -: 200 fl! Ihr seht also, daß man hier noch lumpiger sein kann als bei uns! Dasselbe Schicksal teilte auch der Rektor, der ebenfalls nur die Hälfte der erbetenen Zulage erhielt! -) Vorher waren natürlich mehrere große Studendenversammlungen, in denen die Sache beraten und arrangiert wurde, und wo es sehr toll und lustig zuging, auch wieder viele tolle Vorschläge gemacht wurden. Übrigens beteiligten sich nur 150 am Fackelzug; die meisten andern wollten nicht soviel Geld opfern. (Es kostete jeden 1 1/2 fl.) Wir hatten zwei große Musikchöre; das eine von der Festungsartillerie kostete 50 fl., das andere von der Landwehr (d. h. was man hier so nennt; es hieße besser Nationalgarde oder Bürgerwehr oder Philistergarde; am besten lassen sich diese tapferen Krieger mit den Merseburger Schützen vergleichen) kostete 44 fl. 24 kr. (allgemeines Gelächter!). - Der Zug fiel übrigens ganz prächtig aus; die Umstände waren sehr günstig: die Nacht stockfinster und ein frischer Wind, in dem die Flammen herrlich hin und her flatterten. Und was glaubt Ihr, daß Euer "philiströser, stubenhockender Pflanzenmensch" (wie mein offizieller Titel lautet) dabei für eine Rolle spielte? - Ich sage Euch: eine Hauptrolle! (hört, hört!), und zwar vermöge eines einzigen, gescheuten Einfalles, der von meinen Herrn Kommilitonen als überaus geistreich und klassisch gepriesen wurde. Ich zog nämlich über Karls alten Rock meine - glanzkattunene Sezierkutte! - Da ich auch ein bischen Furcht vor Erkältung hatte, namentlich da meine Zähne wieder etwas unartig waren, so zog ich über meine dicken karierten Hosen noch Vaters alte inexpressibles; da aber diese viel kürzer waren, so ragten jene ein gut Stück drunter hervor. Nun denkt Euch dazu noch die große alte Mütze, die weißgrauen, klobigen Gummischuhe über den schwarzen Stiefeln, die Pelzhandschuhe, in der linken Hand die riesige Fackel, in der rechten den knotigen Stock, und das höchst gelungene, echt poetische Bild in dem romantisch klassischen Anzuge steht im roten Fackelglanze vor Euch. Dazu kommt nun noch der herrliche Rußüberzug, der schon nach den ersten Minuten, als die Fackeln angezündet waren, sich einstellte und mit dem Schweiß im Gesicht eine innige, Druckerschwärzen ähnliche Verbingung einging, so daß ich wirklich wie ein leibhaftiger Köhler oder Teufel oder sonst was aussah.

Der Effekt dieser gelungenen Figur ist kaum zu beschreiben. Die Kinder nahmen schreiend Reißaus, die Frauen und Jungfrauen bildeten, wo wir stehenblieben, einen förmlichen Zuschauerkreis unter Kichern und Staunen, trotzdem wir unsre Fackeln ihrem Gesicht möglichst näherten; die Männer blickten mir fast bedenklich nach, und meine Kommilitonen selbst bewunderten in mir den "wahren Jünger der Wissenschaft", den "Anatomen, wie er sein soll", und das alles machte die schöne Sezierkutte, deren einfarbiges Schwarz durch braune Blutflecken, kleine Fettklümpchen u. dgl. angenehm unterbrochen war. Natürlich fühlte sich auch der Geist, der in einer so reizenden Hülle steckte, entsprechend erhoben; ich schwang meine Fackel trotz Einem, und als wir nach fast zweistündigem Umzuge (von 8-3/4 10) auf dem Domplatze den Rest der Fackeln zusammenwarfen und einen tollen Hexentanz um diesen Scheiterhaufen ausführten, spielte meine anatomische Figur wieder die Hauptrolle. Dieser letzte Moment gehörte übrigens zu den schönsten. Zuerst wurde ein großer Ring gebildet und "gaudeamus igitur" gesungen, und dann flogen mit einen Male alle 150 Fackeln hoch, hoch in die Luft und beschrieben, wie Raketen, eine schöne Parabel, worauf sie in weitem Bogen niederfielen. Einige besonders Geschickte schleuderten die ihrige noch ein paarmal in die Höhe, und zwar mit einem solchen Schwunge, daß die Fackel während des Wurfs sich mehrere Male um ihre eigene Achse drehte, was einen prachtvollen Effekt machte . . .

Vor Virchows Haus standen wir fast eine Stunde. Es wurde eine Deputation, die in einer besonderen Kutsche fuhr, zu Virchow hineingeschickt, um ihm unsre Sympathien (die bei uns grade nicht sehr groß sind, obwohl ich seinen kalten, festen, fast starken Charakter sehr bewundre) auszudrücken; dann kam er selbst heraus und hielt eine ziemlich lange Rede, voll edlem Selbstgefühl und Eifer für die Wissenschaft, der er ganz angehöre! Ich hätte den Fackelzug lieber Kölliker gebracht! Als ich voll Übermut und Lustigkeit nach Hause kam, empfing mich meine gute Frau Wirtin gleich mit einem "Jesses Maria Juseph, wie schähe sa ausch (wie sehen Sie aus), Herr Doktor?" Ich sah auch wirklich allerliebst aus, namentlich im Gesicht, wo ein Stückchen Haut en profil gering vergrößert etwa wie beifolgende Figur aussah: wie an einem Magnet, der in Eisenfeilspänen gelegen hat, war die ganze Haut mit einem dichten Barte von schwarzen Fäserchen und Ruß überzogen, so daß ich mich selbst kaum kannte. Unseren vereinigten Bemühungen mit warmem Wasser, Butter und Bimssteinseife gelang es jedoch bald, diesen Überzug bis auf schwarze Ringe um die Augen und die Stirn, die noch ein paar Tage hielten, zu entfernen. Übrigens bekam mir die Geschichte vortrefflich; die Zahnschmerzen sind dadurch vollends vergangen und mein Sezierrock besitzt noch jetzt einen kräftigen Kienrußgeruch, der mir untem dem exquisiten Fleischgeruch beim Sezieren sehr wohl tut und mich immer an einen schönen märkischen Kiefernwald erinnert . . .

Um 11 Uhr ging ich noch eine Stunde lang auf die große Kneiperei, wo fast die gesamte medizinische Studentenschaft zusammen war (denn hier fehlten die Nichtfackeltragenden nicht!), und wo zugleich mit mir alle medizinischen Dozenten, Virchow selbst an der Spitze, eintraten. Anfangs war es recht nett; es ging sehr lustig her und wurde tüchtig musiziert und Burschenlieder gesungen. Bald fing aber die Sache an etwas gar zu toll und bunt zu werden, und selbst bei den Professoren stellten sich gelinge Begriffsverwirrungen ein. Kölliker, der immer der Gescheuteste ist, drückte sich deshalb nach einem Stündchen, und ich folgte seinem Beispiel. Die andern sind noch bis zum andern Morgen beisammengeblieben, bis sich zuletzt der ganze Wirrwarr in einem allgemeinen Katzenjammer aufgelöst hat. Virchow selbst ist nach 3 Uhr nach Hause gekommen; wie? weiß er wohl selbst am wenigsten! Die nächste Folge war, daß am nächsten Tag kein Kolleg gelesen wurde, außer bei Kölliker, wo nur 25 da waren. Virchow ist 8 Tage wegen "Grippe" zu Haus geblieben. Das ist das End vom Lied! - . . .

1000 Grüße E. H.




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Erstellt von Christoph Sommer am 30.06.1999