Ernst Haeckel: Briefe an die Eltern

10. Brief

Würzburg, Sonnabend 11. 12. 1852

Innigstgeliebte Eltern!

Was gäbe ich darum, wenn ich Euch jetzt in meine Arme fassen und mein übervolles Herz Euch so recht ausschütten könnte; es durchkreuzen mein armes Hirn jetzt mit einemmal wieder so viele ermutigende und frische Gedanken, daß ich mich trotz der Zahnschmerzen, die mich diese ganze Woche geqüält haben, und noch quälen, wieder ganz neugestärkt und lebensmutig fühle. "Auf Regen folgt Sonnenschein" und auf großes Leid immer große Freud; das ist ein Satz, den ich jede Woche an mir bestätigt sehe. Gestern war der Leidenstag, wo ich mich weder körperlich noch geistig recht wohl fühlte; dafür habe ich mich ordentlich ausgeschlafen, habe heute vormittag mit dem größten Vergnügen flott gezeichnet, dann ein prächtiges Kolleg gehört, und als ich nachmittags aus einem Kaffeehaus, wo ich mit Bertheau und la Valette mit großem Vergnügen den "Kladderadatsch" gelesen habe, nach Hause kam, fand ich auf meinem Tisch - ratet! - ein dickes Paket aus Merseburg. Dasselbe enthielt außer einer Menge getrockneter Pflanzen eine solche Masse von Briefen, daß ich mit deren Durchlesen noch nicht zur Hälfte fertig war, als vor einer 1/2 Stunde Euer sehnlichst erwarteter, lieber Brief mich überraschte. Habt dafür den herzlichsten Dank, sowie auch für die Geldsendung, mit der ich noch einmal so solange zu reichen gedenke als mit der vorigen Summe, die Ihr mir mitgegeben hattet. Um 6 Uhr gehe ich nun, um das Glück des heutigen Tages zu vollenden, wieder in die Physikalisch-medizinische Gesellschaft, welche heute zum erstenmal, seitdem ich da war, ihre Sitzungen hält; vor 14 Tagen war zwar eine Sitzung, aber geheime, indem das Jahresfest gefeiert und Rechnung abgelegt wurde. Doch ich sehe, daß es Zeit ist. Adieu bis nachher!

Sonntag abend, 12. 12. 52.

Jetzt komme ich dazu, meinen liebsten Alten den angefangenen Brief von gestern fortzusetzen. Der gestrige Abend war wieder sehr interessant. Namentlich hielt Kölliker einen sehr schönen, klaren, interessanten Vortrag über die Ergebnisse seiner Ferienreise, die er zusammen mit Prof. Müller und Dr. Gegenbaur von hier (Zoologen und Anatomen) nach Sizilien gemacht hatte. Der Zweck derselben war hauptsächlich auf Erforschung niederer Seetiere gerichtet, deren Anatomie, Morphologie und Physiologie höchst anziehend und wichtig ist. Zu diesem Zwecke hatten sie sich sehr lange an der Meerenge von Messina aufgehalten. Zuerst teilte Kölliger einiges Allgemeine über die letztere, namentlich über die Szilla und Charibdis mit, deren Wogen auch bei größter Windstille in fortwährender Bewegung begriffen ist . Er schreibt dies hauptsächlich einer starken Meeresströmung zu, welche einmal von Süden nach Norden und dann umgekehrt geht . Sodann beschrieb und zeichnete er viele neue Polypen, Medusen (Quallen), Mollusken und anderes dergleichen kleines Viehzeug, auch merkwürdige kleine, höchst niedrig organisiert Fische, welche er teils neu entdeckt, teils genauer beobachtet hatte. Eine wichtige Entdeckung davon hatte er jetzt gleichzeitig mit unserm Johannes Müller, seinem Lehrer gemacht, der zur nämlichen Zeit (in Begleitung von Lachmann) am Adriatischen Meer, bei Triest, ähnliche Forschungen anstellte . . .

Nun zu meinem gestern erhaltenen Briefschatz: der erste und größte (4 Bogen lange!) ist von Ernst Weiß, der auch die Abschickung des Pakets besorgt hatte. Es ist mir wahrhaft rührend, mit welcher treuen Anhänglichkeit der alte Junge mir alles berichtet und mitteilt, wie er dabei, im Kampfe mit seinem trocknen Stoizismus, sein tiefes ernstes Gemüt offenbart, und wie er mir dann seinen Freundesrat erteilt und mich über meine Skrupel tröstet. Auch schüttet er sein Herz aus über dem Materialismus seiner Mitschüler und über seine Verlassenheit, indem Webers Besuche von Halle das einzige seien, wa ihn an unser früheres Zusammensein erinnert und ihm teilweise ersetze. Besonders entbehrt er, wie auch ich, sehr jemanden, dem er sein naturwissenschaftliches und in specie botanisches Herz ausschütten könnte. Diesem angehängt ist ein Brief von Osterwald, den ich Euch hier wörtlich mitteilen will:

"Nur ein paar Zeilen, liebster Gevatter, damit Sie nicht glauben, ich hätte Sie ganz vergessen. Zu einem ausführlichen Briefe habe ich leider noch immer keine Zeit, da mich eine größere wissenschaftliche Arbeit über die Odyssee, in der ich jetzt lauter Frühling sehe, in Anspruch nimmt. Weiß hat mir schon Ihre Skrupel wegen Ihrer Zukunft mitgeteilt. Ich habe es Ihrem Herrn Vater lange vorhergesagt, daß ich an den Mediziner in Ihnen nicht glaube, und bin daher durch Ihren Entschluß, umzusatteln, durchaus nicht überrascht. Wenn der Entschluß nun reif ist, so führen Sie ihn ohne Melancholie aus. Mathematik werden Sie schon genug lernen, und die Naturwissenschaften können ja die Hauptsache bleiben. Verschließen Sie sich nicht gegen humaniora, halten Sie sich den Sinn offen für "Allgemeines" und steuern dann auf die akademische - und geht es nicht - auf die Schulmeisterkarriere los. Schulmeister sein ist freilich ein saures Brot; aber es hat doch viel mehr Freude als etwa ein Steinklopfer, zumal wenn man solche treffliche Leute wie Sie, mein lieber Gevatter, zu Schülern hat oder gehabt hat. Es wäre schön, wenn Sie einmal in Merseburg das Probejahr machen müßten! Adieu für heute! Meine Frau grüßt herzlich, Minchen ist sehr drollig und Ernst ganz allerliebst. Adieu. In alter Freundschaft der Ihrige

Osterwald."

Ihr könnt kaum glauben, liebste Eltern, was diese paar Zeilen in meinem Innern rumort und zu einer zufriedenen Stimmung beigetragen haben. Es war mir fast grade so froh und ruhig, so still in Gott zumute, als wie ich Tante Bertas herrlichen Brief erhielt. Es ist dies wirklich das einzige, was mich noch aufrecht erhält und nicht ganz an mir selbst verzweifeln läßt, daß solche prächtigen Leute wie Osterwald, wie Tante Berta, wie Ihr selbst, liebe Eltern, wie mein trefflicher Bruder und meine tüchtigen alten Freunde Weber und Weiß mich nicht aufgeben, sondern an mir festhalten und mit Liebe und Teilnahme meiner gedenken. Fast noch inniger und herzlicher als die vorigen ist der Brief von meinem treuen, lieben Weber, der mir auch ganz sein herrliches Gemüt, sein tiefes volles Herz, das für die Außenwelt so ganz verborgen und abgeschlossen liegt, aufschließt. Er tröstet mich zunächst über das Heimweh und schildert mir in einer wahrhaft poetischen, sinnig-einfachen Weise, wie er davon fast 6 Jahre lang, solange er auf der Schule war, so oft er in den Ferien nach Hause ging, gequält worden sei, wie er es jetzt endlich überwunden und sich einen stetig stillen, durch nichts zu störenden, auch durch die engsten Verhältnisse nicht zu unterdrückenden Frohsinn erworben habe. (Ach, wann werde ich es einmal so weit gebracht haben!!) -

Sodann gibt er mir ganz speziellen Rat über das Studium der Mathematik, wie ich es betreiben solle und wie es ihm selbst (der es ja eigentlich auch nur um der Natur willen betreibt) gefalle. Diesem köstlichen Brief sind allerliebste Skizzen beigefügt (besonders schöner Baumschlag), dann getrocknete Pflanzen, und auch ein Brief von Gandtner an Weber, den jener diesem geschrieben hatte, als er ihn Ostern 52 weges des zu ergreifenden Studiums um Rat fragte. (Auch Gandtner ist entschieden der Meinung, daß Weber - und also auch ich jetzt - nur getrost Mathematik und Naturwissenschaft studieren sollen. Ich werde übrigens nächstens an G. schreiben.) Der fünfte Brief ist von Finsterbusch, gleichfalls sehr herzlich-freundschaftlich, aber mit einem Gefühl geistiger Überlegenheit und erlangten Charakters, das ich längst in ihm vermutet, und das mich für ihn sehr freut, wenngleich es mich tief schmerzen muß, wenn ich mich mit ihm vergleiche, und sehe, wie es mit mir doch gar nichts wird und werden kann. Er warnt mit Recht vor allen "vor einem kränkelnden, süßlichen Zustande, in welchem man sich leicht gefällt und, sonderbar genug, mit Wollust sein Leben versauert, und so recht ungenutzt dahingehen läßt". - Sehr wahr ist ferner folgendes: "Ich hatte, wie auch Du, in der Schule eine falsche Ansicht vom Studium. Ich sah das Hineinversenken in dasselbe als Spitze des Studierens an, und mit Recht in gewisser Beziehung. Nur verwechsele man dies nicht mit dem darin Versunkenbleiben!!" - Zugleich rät er mir dringend, mich unter den Leuten unzusehen, Bekanntschaften anzuknüpfen, einen Freund zu suchen; dazu keine Mühe zu scheuen, usw. Das ist wohl alles sehr wahr, aber ebenso leicht gesagt, als schwer getan. Ich wenigstens sehe, daß, je mehr ich mir Mühe gebe, mich zusammenzunehmen, es mir desto weniger gelingt . . .

Wie glücklich ist so einer doch durch seinen selbstständigen Charakter! -

Endlich liegt noch ein Brief von Hetzer bei, in gewohnter sarkastisch-gutmütiger Manier. Was nun die Hauptfrage betrifft, die in allen diesen trefflichen Briefen ausführlich und mit großer Teilnahme behandelt ist (NB. Ihr müßt wissen, daß auch ich in einem Brief von hier an Weiß und Weber mein Herz ausgeschüttet und mir Rat erbeten hatte), mein künftiges Leben und Studium anbelangend, so ist darüber bei ihnen allen nur eine Stimme, die Ihr in Osterwalds Zeilen kurz ausgesprochen findet. Namentlich ist es der kleine Weiß, der mit ordentlichen Ungestüm in mich dringt, seinem, seiner Freunde und aller Vernünftigen Rat zu folgen und mich nicht durch Zweifel zu quälen. Es ist ordentlich komisch rührend, wie er bestimmt behauptet, ich würde noch Professor, und wahrscheinlich der Botanik. Daß ein Praktikus in mir nicht verloren gehe, darüber ist und war er von je mit mir und allen einverstanden . . .

Wenn ich Euch nun berichten soll über die vergangene Woche, so finde ich, daß sie ziemlich viel Abwechslung geboten hat. Wenigstens bin ich einen Abend (hört, hört!1) in Gesellschaft (!) gewesen. Es kam dies so: als ich abends mit Schenk aus dem mikroskopischen Kurs nach Hause ging, fragte er mich, ob ich die Musik liebe? Als ich dies halb und halb bejahte, lud er mich zu Mittwoch abend zu sich ein. Als "junger Mann von Lebensart" (!) ging ich nun Mittwoch früh in schwarzem Frack, Hosen (die so zum erstenmal auskamen und wenigstens nicht ganz umsonst mitgenommen wurden wie die weißen nach Teplitz) und Handschuhen (Bertheau wollte mir durchaus seinen schwarzen Hut applizieren; indes ließ ich mir solches nicht gefallen) hin, um der Frau Professorin Schenk meine Aufwartung zu machen. Glücklicherweise war sie nicht zu Hause. Abends war es recht nett und gemütlich; und in mancher Beziehung tat es mir einmal sehr wohl.

NB. Wenn Ihr mal wieder etwas schickt, so schickt doch auch die "Odyssee" mit; ich glaube, sie steht in meinem Glasschrank auf dem zweiten Brett; ich habe oft große Sehnsucht danach! -. . .




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Erstellt von Christoph Sommer am 30.06.1999