Ernst Haeckel: Briefe an die Eltern

5. Brief

Würzburg, 19. 11. 1852.

Innigst geliebter Vater!

Auch in diesem jahr kann ich Dir meinen innigsten Glückwunsch und herzlichen Gruß zu Deinem Geburtstag nur schriftlich bringen. Möge Dich Gott uns noch lange, lange so frisch und munter erhalten; mögst Du vor allem rechte Freude an Deinen Kindern erleben; an Deinem einen Jungen hast Du nun schon die feste Gewähr, daß er immer gut und glücklich sein wird. Der andre hat zwar bis jetzt leider noch wenig genug Aussicht blicken lassen, seinem Bruder bald, namentlich, was Ordnung, Ausdauer und Charakterfestigkeit betrifft, nachzukommen; in dessen kannst Du fest versichert sein, daß er sich's auf ernstlichste angelegen sein lassen wird, ein braver Mensch zu werden und gleichfalls seiner Eltern wert und ihre Freude zu werden. Er wird sich gewiß alle mögliche Mühe geben, seine Schwächen mehr und mehr zu überwinden.

Wie gern ich an unserm größten Familienfesttag bei Euch wäre, brauche ich Euch nicht erst zu versichern; gar zu gern hätte ich Dir auch etwas geschenkt, wenigstens eine ordentliche Zeichnung; namentlich da ich jetzt grade mit dem Zeichnen wieder recht im Zuge bin, und es beinah meine einzige rechte Freude ist, die mir jederzeit böse Gedanken vertreibt. Allein die Zeit war grade diese Woche sehr beschränkt, und eine Skizze im Freien von der Gegend aufzunehmen, ist es schon zu herbstlich und kahl draußen. Daß es nicht am guten Willen fehlte, kannst Du aus dem beifolgenden Schattenriß abnehmen, den ich gestern nachmittag bei dem schauerlichsten Herbstwetter an dem Landungsplatz der Dampfschiffe zum Schutze gegen den heftigen Wind hinter einem Holzblock, wie er unten links in der Ecke steht, in etwas unbequemer Stellung hinwarf.

Das große Schloß oben rechts ist ein Teil der Zitadelle. Weiter links herunter, zwischen ihr und der alten Kirche unten über der Brücke, liegt das "Käppele", das Kloster, nach dem ich in den ersten Tagen meines Hierseins den schönen Spaziergang gemacht hatte; es führt eine Allee von kleinen Kapellen herauf, in denen die Leidensgeschichte bildlich dargestellt ist. Unterhalb der Zitadelle, auf dem linken Ufer, liegt die Vorstadt: das Mainviertel. Gegenüber, links von der Brücke, auf dem rechten Ufer, liegt Würzburg selbst, das Du Dir hinzudenken mußt. Übrigens macht die Skizze weder Anspruch auf künstlerischen Wert noch auf getreue Ausführung. Es soll Dir bloß als Bote von der Liebe erzählen, mit der Dein Kind jederzeit an Dich denkt, und namentlich an Deinem kommenden Feste sehnsüchtig nach Berlin hinüberträumen wird, wo auch seine Lieben seiner nicht vergessen . . .

Nun seid recht froh und munter, und wenn Ihr den entfernten General "que nous aimons" leben laßt, denk an Deinen treuen alten Jungen

Ernst Haeckel.




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Erstellt von Christoph Sommer am 30.06.1999