Ernst Haeckel: Briefe an die Eltern

4. Brief

Würzburg, den 14. 11. 1852 früh.

Meine lieben Eltern!

Als ich Sonntag um 10 Uhr auf der Post war, dachte ich: "du willst doch einmal versuchen, ob du nicht eine evangelische Kirche findest", und kam gerade richtig noch zum letzten Verse, ehe die Predigt anging, hin. Der Text war das Evangelium von dem Knecht, dem der Herr seine ganze Schuld erließ, und der dann seinen Mitknecht einer kleinen Schuld wegen ins Gefängnis werfen ließ; der Prediger, ein lebendiger junger Mann, sprach zuerst von der unendlichen Gnade Gottes, und dann, wie wir uns ihrer würdig zeigen müßten und könnten. Die Predigt gefiel mir außerordentlich, teils an und für sich, teil auch wegen der schönen, großen Gemeinde, die wirklich etwas zur Andacht Stimmendes hatte. Die Kirche war ziemlich schmucklos, ein einfaches, sehr hohes Schiff von der Breite des Merseburger Doms, aber mindestens noch einmal so lang. Dieser ganze ungeheure Raum war so dicht mit Menschen besetzt (wenigstens 800-900), da es die einzige evangelische Kirche hier ist, daß die Leute im eigentlichsten Sinne des Wortes bis an die Tür standen. Ihr braucht deshalb nicht auf eine Analogie mit Friedrich zu schließen, daß ich die Predigt schön gefunden hätte, weil viele Leute darin waren; aber ich hatte noch nie eine so große Gemeinde gesehen, und mitten in einem katholischen Land ist ein solcher Anblick in seiner feierlichen Ruhe wirklich erhebend.

Als ich nach Hause kam, fand ich Euer Bücherpaket vor; sehr lieb wäre es mir gewesen, wenn auch "Van Swindens" Elemente der Mathematik dabei gewesen wären; doch diese kann, nebst dem Echtermeyer, nun warten, bis Ihr mal gelegentlich was zusammen schickt. Daß Ihr doch meint, ich sollte den Dr. medicinae durchführen, darüber bin ich, ehrlich gestanden, etwas erschrocken; ich glaube, daß ich noch eher den Dr. philosophiae (erschrick nicht, liebes Mutterchen! mit der Philosophie selbst ist es so ernst nicht gemeint!) machen werde. Doch verspare ich alle Auseinandersetzungen über diesen wichtigen Punkt auf die mündliche Besprechung zu Ostern. Ich bin wenigstens froh, daß ich weiß, was ich den Winter zu tun habe; und will mir die Anatomie, so gut es geht, tüchtig einpauken, wozu mir durch das vortreffliche Kolleg und die guten Sezieranstalten aller Vorschub geleistet ist. -

Da es Sonntag sehr schönes Wetter war (das entgegengesetzte von dem heutigen), so machte ich mit Bertheau und mehreren Freunden desselben nachmittags einen Spaziergang nach Dürrbach, einem Dorfe, was jenseits der nächsten Weinberge auf dem diesseitigen (rechten) Ufer liegt (3/4 Stunde weit). Auf der Höhe des sehr steilen Bergrückens genießt man eine herrliche Aussicht auf die Stadt und Feste; am schönsten aber erscheint der Main, der hier in einer anmutigen Biegung am Fuß der Hohe hinströmt, und weiter oben zwischen höheren Ufern in der Ferne durchblickt. Grade gegenüber dem Berg, auf dessen Höhe wir standen, liegt im Tale höchst romantisch ein Kloster; mehrere andere weiter unten, wie man hier überhaupt überall auf Kirchen und Klöster in Menge stößt. Im übrigen ist diese Woche ziemlich ruhig und alltäglich für mich verflossen, da ich nun schon mehr ins Arbeiten hineinkomme, was anfangs gar nicht ging; besonders schön ist's jedoch auch jetzt noch nicht gegangen; denn das Heimweh, von dem ich vor 8 Tagen schon glaubte, es überwunden zu haben, stellte sich wieder recht heftig ein; besonders, wenn ich abends so allein dasitze, lauft Ihr und mein Ziegenrücker Pärchen mir immerfort über das Papier; und trotz aller Mühe, die paar Gedanken, die ich noch von allen Sorgen und Grübeleien behalten habe, recht zusammenzuhalten, kann ich doch keine zwei oder drei Sätze, selbst im Schleiden oder Humboldt, im Zusammenhang lesen, ohne daß sie mir wieder weglaufen, besonders nach Berlin. Ich glaubte, es würde hier nicht so schlimm, wie in Merseburg, wo mir jeder Ort und Gegenstand das Zusammenleben mit Euch zurückrief, werden; aber es stellt sich nun eine ganz andre, ich möchte sagen idealere Art von Heimweh ein. Indes glaube ich doch, daß es auch so gut ist, und lerne schon etwas den Nutzen des Alleinseins sehen. Ich war auch ein paarmal abends mit Bertheau und seinen Bekannten in einer Kneipe; allein es will mir nicht recht gefallen; nicht, daß sie etwa roh wären; im Gegenteil, sie sind viel solider, als ich gedacht hatte; aber die einzige Unterhaltung fast, die sie kennen, ist Kartenspielen, besonders Whist, wozu ich eben keine Lust habe, und die Gespräche handeln fast nur von medizinischen Fachgegenständen, namentlich chirurgischen Operationen, die ich nun so ziemlich satt bin. Dagegen habe ich eine sehr nette Bekanntschaft aus Berlin erneuert; es ist dies ein Köllner "la Valette Saint George", den ich auf einer Exkursion in Berlin, obwohl bloß dem Äußern nach, kennenlernte. Er ist auch bekannt mit Wittgenstein, und studiert gleichfalls bloß Naturwissenschaften; wird sich jedoch hier mehrere Semester aufhalten, da er sich neben Chemie und Botanik hauptsächlich auf vergleichende Anatomie, den Hauptzweig der Zoologie werfen will, und hierzu die menschliche Anatomie gleichfalls braucht. Auch er ist kein besonderer Freund der Mathematik und will später den Dr.philosophiae machen, wozu man sich, wie ich von ihm gehört habe, in vier Fächern (z. B. Botanik, Chemie, Physik, Zoologie) examinieren lassen muß, jedoch bloß in einem vollständig beschlagen sein muß. Dann will er sich vielleicht als Dozent habilitieren; dies geht auch recht gut, da er von seinen Renten leben kann . . .

Gestern habe ich einen sehr genußreichen Abend gehabt. Ich war nämlich in der "physikalischen Gesellschaft", deren Präsident jetzt Virchow ist, und deren Mitglieder sämtliche hiesige Notabilitäten, auch naturforschende Nicht-Notabilitäten sind. Jedoch erhalten auch Studierende Zutritt; ich erlangte ihn durch meinen Nachbar im Köllikerschen Kolleg, einen Schweizer, bekannt mit Kölliker, Dr. phil., mit Namen "Gsell-Fels", der sehr freundlich und gefällig gegen mich ist. Wie ich gestern hörte, ist er schon verheiratet, und noch nicht lange hier; was er treibt habe ich nicht erfahren. Die physikalische Gesellschaft setzt ihre Tätigkeit, wie die meisten derartigen (auch die geographische in Berlin), außer in Korrespondenzen, Austausch usw. hauptsächlich in freie Vorträge, deren gestern drei gehalten wurden, die 6-9 Uhr abends dauerten. Den ersten Vortrag hielt Professor Schenk, der hiesige Botaniker, bei dem ich wohl auch noch hören werde, ein sehr geistreicher und geschickter junger Mann, der leider einen etwas holprigen schlechten Vortrag hat, über seine botanische Ferienreise in die unteren Donaugegenden, die Walachei, Ungarn, Siebenbürgen und die Karpathen. Die Flora dieser Gegenden stimmt in der Ebene fast durchaus mit der Steppenflora von Südrußland, im Gebirge mit der Alpenflora des Kaukasus überein. Wälder gibt es wenig, da sie meist abgeholzt oder abgebrannt werden, um Schafweiden zu gewinnen, dagegen viel undurchdringliches Unterholz. Die Gebirgsgegenden sind meist sehr öde; oft tagereisenlang nur eine einzige Grasart (Agrostis rupestris), in den Steppenebenen oft nur Poa glauca. An manchen Strecken, besonders um die Natronseen, Salzpflanzen. Kulturpflanzen ausschließlich: Wein, Weizen, Mais. Außer diesen und vielen anderen speziell botanischen Ergebnissen, teilte er auch noch viele höchst interessante geologische und oryktognostische Notizen mit; z. B. über das Vorkommen bedeutender Schlammvulkane in Ungarn, von denen noch niemand bis jetzt etwas gewußt hat. Sodann erzählte er viel von den Sachsen in Siebenbürgen, was besonders Dich, liebes Väterchen, sehr interessiert haben würde. Die Sachsen haben sich bis jetzt noch sehr rein erhalten, sprechen das alte Plattsächsisch (während ihre Kinder jetzt Hochdeutsch gelehrt werden), haben noch alle deutschen Sitten und Gewohnheiten behalten und hängen noch sehr an Deutschland. Von ihren slawischen Nachbarn, die auch keine Stiefel oder Schuhe tragen, unterscheiden sie sich äußerlich sogleich durch ihr langes Hemde, während diese ein kurzes dito über den Hosen tragen. Höchst merkwürdig ist, daß sie auf alle Fragen über ihre Herkunft steif und fest behaupten, wie dies auch in ihren alten Urkunden steht, von dem Rattenfänger aus Hameln dorthin geführt zu sein, welche Sage bekanntlich auch in Deutschland ganz allgemein ist. -

Den zweiten Vortrag hielt Professor Virchow gleichfalls über seine Ferienreise, die allerdings einen etwas anderen Gegenstand zum Zwecke hatte, nämlich den Kretinismus in Unterfranken. Er teilte darüber gleichfalls eine Menge, für Mediziner höchst interessante Data mit, die auch in sozialer Hinsicht sehr wichtig sind, mit deren Wiedererzählung ich jedoch Euch und mich nicht amüsieren will; z. B. empfahl er uns, eine Reise in die kretinreichsten Distrikte zu machen, weil man dort erst dahinterkomme, was die Natur für Karikaturen aus dem Menschen zu machen vermöge. Unter anderm habe er eine 21jährige Kretine von 84cm (2 1/2 Fuß) Höhe gesehen, deren Kopf 54 cm Umfang hatte, und deren Fuß 17 cm lang war, und dergleichen mehr. Übrigens ist es wirklich erstaunlich, was für eine Masse Kretins es hier gibt; in einem kleinen Orte fand er deren über zwanzig. Besonders häufig sind sie am Abhang des Gebirgs, in der Nähe des Flusses. In den trocknen Ebenen und im Gebirg selbst fehlen sie. Er meint, daß der Kretinismus hauptsächlich von lokalen Ursachen, von Miasmen oder so etwas herrühre.

Den dritten Vortrag hielt Professor Osann, der hiesige Physiker, über einige seiner Arbeiten im Gebiet der Elektrizität. Unter anderm hatte er ein neues Elektrometer konstruiert. Erst hielt er eine langweilige mathematische Explikation, von der ich nicht viel verstand, weil er ein sehr schlechtes Organ hat; dann zeigte er einige sehr interessante Experimente; das erste war: wenn man Zink in verdünnte Schwefelsäure hält, entwickelt sich, wie bekannt, Wasserstoff; wenn man nun das Zink, von dem die Gasentwicklung allmählich vor sich geht, mit Platin in Berührung bringt, steigt von diesem plötzlich ein höchst intensiver Strom von Wasserstoffgas in die Höhe. Dann zeigte er noch einen sehr starken, induktorischen Rotationsapparat und experimentierte damit an sich selbst und an Prof. Kölliker. Bei Schließung der Kette bekam man sogleich die heftigsten Krämpfe und Gliedverdrehungen. -

Die ordentlichen Mitglieder blieben nun noch zur Soiree, wo es sehr nett hergehen soll, da; wir, Lavalette und ich, drückten uns. Was mir besonders an der Zusammenkunft angenehm auffiel, war die ungeheure Gemütlichkeit und Zwanglosigkeit, mit der die Professoren sowohl untereinander als mit den andern Leuten verkehrten, und von der man in Berlin, und namentlich unter Professoren keinen Begriff hat. - . . .

An ein Klavier in meiner Stube ist vorläufig nicht zu denken, da jeder Platz so dicht besetzt ist, daß ich mich selbst kaum umdrehen kann . . . Mir gegenüber wohnt aber ein Freund von Bertheau, der mir erlaubt hat, so oft ich will, auf seinem schönen Klavier zu spielen . . .

Ein große Freude muß ich Euch noch erzählen, die ich vorgestern gehabt habe. Ich ging nämlich in der Dämmerung auf dem Platz am Main spazieren, wo die Schiffe abladen; plötzlich erblickte ich am Ufer zwischen Gestrüpp die seltene Kohlart (Brassica nigra), die ich in Merseburg zuerst gefunden hatte. Als ich sie nun abpflücke, entdecke ich am Boden unter ihr eine merkwürdige, gleichfalls gelbblühende Kruzifere. Als ich sie zu Haus bestimme, ist es die seltene Diplotaxis muralis: Ungeheure Freude! . . .

Mit Kölliker bin ich nicht näher bekannt geworden. Was er mir anbot und sagte, war bloß, als ich mir den Platz holte. Übrigens soll er seine Empfehlungen für die "Harmonie" fast jedem anbieten. Es ist auch schon ganz überfüllt und wird wohl auch niemand mehr aufgenommen. Übrigens ist es mir auch gar nicht leid, da man in solchen Zusammenkünften nur unter Umständen Genuß hat. Ich für meine Person bin auf jedem Ball bis jetzt traurig und düster geworden; ich weiß nicht, warum? Es geht mir wie dem in Wallenstein! (ich glaube, es ist max Piccolomini): "Ihr wißt, daß groß Gewühl mich immer still macht!" - . . .

Innigen Gruß und Kuß von Eurem treuen alten Jungen

E. H.






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Erstellt von Christoph Sommer am 30.06.1999