Ernst Haeckel: Briefe an die Eltern

2. Brief

Würzburg, den 31. Oktober. 1852.

Meine lieben Eltern!

Indem ich so den Sonntagabend hier ganz allein sitze (Bertheau und meine andern Bekannten sind trotz des schauderhaften Regenwetters ausgegangen, um den Festlichkeiten zum Empfang des Königs von Bayern beizuwohnen) und daran denke, wie froh ich sonst, und in specie vor acht Tagen, den Sonntagabend mit Euch zubrachte, fällt mir meine plötzliche Entfernung von Euch wieder einmal recht schwer, und ich denke, das Heimweh wird wohl am ersten vergehen, wenn ich mich mit Euch, wenn auch nur in Gedanken und brieflich, unterhalte. Ich habe mich nun hier schon etwas orientiert und eine vorläufige Tagesordnung festgesetzt. Doch erst will ich Euch erzählen, was ich hier bis jetzt angefangen. Von Donnerstag bis Sonnabend habe ich die Muskeln des Arms präpariert sowie die der Schulter und des Nackens. Die erste Scheu beim Sezieren war bald überwunden; aber einen rechten Geschmack kann ich der Sache doch nicht abgewinnen. Donnerstag früh ließ ich mich immatrikulieren, was hier, wie alles, mit unendlicher Pomade und Langsamkeit vor sich geht. Übrigens geschah es bloß "vorbehaltlich der Beibringung einer polizeilichen Legitimation innerhalb zwölf Tagen", die Ihr mir also, wie ich schon in meinem ersten Brief schrieb, bald von der Polizei besorgen müßt. -

Donnerstag nachmittag führte mich Bertheau auf das "Käppele", ein herrlich auf einem steieln Weinberg am linken Mainufer gelegenes Kapuzinerkloster, von dem man einer sehr schöne Aussicht auf die ganze umliegende Gegend, namentlich auf das massenhafte Häuserlabyrinth der jenseitigen (auf dem rechten Ufer gelegenen) Stadt selbst mit ihren ringförmig sie umgebenden Promenaden und der Unmasse von Türmen und Kuppeln genießt. Noch schöner und großartiger nimmt sich die diesseitige sehr feste Zitadelle der Festung aus, die man von hier aus ihrer ganzen Länge und Breite nach übersieht. Im übrigen ist die Gegend sehr einförmig, nichts als Weinberge, kein Kartoffel- kein Roggenfeld und kaum auf den entferntesten Anhöhen eine Spur von Wald. Der schönste Punkt bleibt noch die Mainbrücke, wo man wenig von den kahlen Bergen, dagegen die Feste von der schönsten Seite erblickt. - Freitag war Festtag, und ich ging deshalb abends mit B.und seinen Freunden in eine kleine Kneipe, um gebackenen Karpfen zu essen, der übrigens ziemlich groß, schlecht und billig war. B.s Bekannte, denen er mich auch vorstellte, und die ich gegen meine Erwartung sehr solid und anständig (hier zu Land eine große Seltenheit) fand, sind drei Mannheimer: 1) ein Jude (für seine Nation sehr angenehm und vernünftig) mit Namen Weyl, 2) ein Wallone, Dyckerhoff (ein sehr hübscher und netter Mensch), 3) Zerroni, aus einer italienischen Familie, gescheut und amüsant. Mit diesen beiden letzteren rühmt sich Bertheau (als französisches Blut) die drei in Mannheim herrschenden Volksstämme (Elsässer, Wallonen und Lombarden) zu repräsentieren. - . . .

Mein Zimmer ist nun vollständig eingerichtet. Es ist ungefähr 16 Fuß lang, ebenso viele breit und 8 Fuß hoch, unregelmäßig viereckig und besitzt als Eckzimmer 4 Fenster, je zwei nach den beiden aneinanderstoßenden Straßen. Da diese sehr eng und finster sind, überdies 2 Fenster nach Norden, 2 nach Osten, wo hohe Gebäude sind, liegen, so kommt den ganzen Tag kein Sonnenstrahl herein. Auch ist es ziemlich kalt; der Ofen ist klein, ganz eisern und erhitzt als guter Wärmeleiter das Zimmer sehr schnell und eine Viertelstunde lang sehr heiß, worauf es wieder kalt wird. Das Mobiliar besteht aus Bett, Kleiderschrank, Sofa, 3 Stühlen, 1 Spiegel und einer Kommode mit einer kleineren offenen und zwei verschließbaren Laden. Um Euch einen rechten Begriff von der Höhle Eures Jungen zu geben, mache ich hier einen Grundriß. Der Waschtisch hat einen Quadratfuß Oberfläche. Ein Sekretär fehlt mir eigentlich sehr, da ich zum Verschließen bloß die beiden Laden habe. Es kommt mir deshalb sehr die Bettkiste mit dem Schloß zustatten, in die ich alle Pflanzen, Sommersachen usw. gepackt habe. Auch in den Koffer habe ich noch vieles packen müssen. Die Bücher stehen in einer Reihe auf der Kommode. Übrigens liegt die Stube sechs Stufen über dem Boden. Die Wirtsleute sind, wie ich Euch schon das vorige Mal schrieb, äußerst zuvorkommend und sorgsam, oft bis zum Übermaß höflich. Der Herr Dr. (den ich, beiläufig, auch nicht zum praktischen Arzt haben möchte) ist ein dicker, sehr gutmütiger Bayer, mit unten breitem, oben spitzem Kopf, der fast ebensoviel schwatzt wie seine wohl 15 Jahre jüngere (etwa 35jährige) breitschultrige, aber auch sehr gutmütige Frau; man sich ordentlich hüten, mit diesem guten Ehepaar zu sprechen anzufangen; denn der Strom Ihrer Rede und ihres Wohlwollens ist, einmal durchbrochen, nicht zu hemmen.

Was meine materiell-physische Existenz anbetrifft, so friste ich diese 1) früh durch eine riesige Tasse leidlichen Kaffee mit zwei kleinen Milchbrötchen, 2) und hauptsächlich durch das Mittageissen auf der "Harmonie", wo außer B. und mir noch vier Offiziere und sechs Studenten speisen. Wir bekommen dort für 18 Kr. (7 Kr. sind 2 Silbergroschen) 5 Gerichte, nämlich: 1) Suppe, 2) Rindfleisch mit Soße, 3) ein andres gekochtes Fleisch mit Gemüse (Kohl meistens), 4) eine Art Mehlspeise, Nudel oder so etwas, und 5) Weintrauben. Hierauf folgt ein Glas Kaffee für 4 Kr. im Cafe Oben (wo sich sehr viel Studenten meist zum Billard oder Kartenspiel versammeln). Zum Abendessen hatte ich mir anfangs "vernünftigerweise" (?) ein Suppe zu Haus bestellt. Da mir diese aber sehr gewürzhaft, fett und schwer, auch nicht grade wohlschmeckend erschien, so habe ich es vorgezogen, so lange es noch frische Weintrauben gibt, diese zum Abendbrot zu verzehren. Sie sind hier ganz vortrefflich und sehr billig; jede Traube kostet durchschnittlich einen Pfennig; wenn sie mir so recht munden, möchte ich immer gar zu gern auch Euch davon abgeben; schade, daß ich Euch keine schicken kann. Auch der Wein selbst soll hier zugleich äußerst billig und gut sein. Von der besten Sorte (Steinwein und Bocksbeutel), die dem Rhein- und Moselwein vorgezogen wird, kostet ein Schoppen, der größer als Großvaters gewöhnliches Weinglas ist, nur 6 Kr. Heute nachmittag habe ich zum erstenmal mit B. und seinen Kameraden süßen Most gekneipt, der sehr delikat süßsäuerlich schmeckte. Auch von ihm kostet ein niedriges Wasserglas nur 6 Kr. Sonst will mir die hiesige Kost nicht besonders behagen; namentlich die Kartoffeln, die hier gar nicht gegessen werden, fehlen mir sehr. Es werden hier überhaupt keine Kartoffeln gebaut; fast die ganze Bevölkerung nährt sich vom Weinbau. Es gibt deshalb auch, da dieser einträglich ist, kein eigentliches Proletariat, wie andrerseits großer Reichtum selten sein soll; die Hauptklasse ist ein wohlhabender Mittelstand, der indessen in moralischer Beziehung sehr auf dem Hund sein soll; wie behauptet wird, durch die Überzahl von Offizieren und studiosis medicinae.Diese beiden Klassen haben übrigens eine sonderbare Stellung zueinander; es ist nämlich vor nicht gar langer Zeit ein Dekretum des vorigen Königs Ludwig erneuert worden, worin mit trocknen Worten gesagt wird, daß jeder Student bei Strafe der Relegation weder einen Offizier mit Wort und Tat beleidigen dürfe, noch auch, von einem solchen beleidigt, diesen zum Duell herausfordern dürfe. Von den Einwohnern (deren Hauptrenten nebst dem Weinbau die Studenten sind) werden diese übrigens samt und sonders überall Doctores tituliert und als solche traktiert; sogar in offiziellen Sachen, auf den Matrikeln usw. heißt es nie: stud. med., sondern immer cand. med. (Kandidat! sehr richtig -). Auch ich werde nicht nur von der Wirtin, sondern von wirklichen Dr. med. stets "Herr Doktor" tituliert! -






Inhaltsverzeichnis

Brief 1................................Brief 3




Diese Seite ist Teil von Kurt Stübers online library
Erstellt von Christoph Sommer am 30.06.1999