Ernst Haeckel: Briefe an die Eltern

1. Brief

Würzburg, den 27. Oktober. 1852 abends.

Liebste Eltern!

Soeben habe ich das erste Menschenblut von meinen Händen, in die ich mich merkwürdigerweise nicht geschnitten habe, abgewaschen, und beeile mich nun, Euch die erste Nachricht von hier zu geben. Meine Reise ging glücklich vonstatten. Von Berlin bis Jüterbogk, wo die Wagen gewechselt wurden, saß ich allein im Coupé und hatte Zeit, den mächtigen moralischen Katzenjammer, der mich bei der Abreise überfallen hatte, durch verschiedene verzweiflungsvolle Reflexionen zu unterdrücken. In Cöthen mußten wir 1 1/2 Stunde warten. Von dort bis Halle fuhr ich mit zwei jungen Ehepaaren, von denen das eine eben von der Hochzeit kam, sich von den schönen Polterabendgeschenken unterhielt und sehr zärtlich und glücklich schien. Das andre hatte ein kleines Kind bei sich, das viel schrie, und die Mutter weinte sehr betrübt. Ich mußte viel an unser Pärchen denken, und wie Freud' und Leid aneinandergrenzen. In Halle empfingen mich Weber, Hetzer und Weiß (der, um mich zu sehen, aus Merseburg herübergelaufen war!!!) am Bahnhof. Ich ließ die Sachen auf dem Bahnhof und ging mit ihnen auf ihr Dachstübchen, wo ich erst mit ihnen Deine Schlackwurst verzehrte. Dann lud ich sie noch in eine Konditorei auf eine Tasse Schokolade. Um 11 Uhr gingen wir wieder auf ihre Kneipe, die Weber mit komischen Wandgemälden, deren Refrain "Willkomm!" war, verziert hatte. Dort plauderten wir nach Herzenslust sehr vergnügt und schütteten namentlich unser botanisches Herz für den ganzen Sommer aus. Um 3 1/2 Uhr gingen wir, trotz Weißens Widerstreben, der mich durchaus mit nach Merseburg nehmen wollte, nach dem Bahnhof, von wo ich nach Leipzig absegelte. Dort war nur eine einzige Droschke, mit der ich nach dem Bayrischen Bahnhof fuhr. Die Fahrt von dort war ziemlich langweilig, nur später, nach dem Fichtel- und Erzgebirge zu, wurde sie interessanter; namentlich die beiden kolossalen Viadukte, deren einer über den Plauenschen Grund führt, sind höchst merkwürdig. Sie bestehen aus drei übereinandergelegten Stockwerken, jedes etwa 30 Fuß hoch, mit einigen 50 Bogen. In Hof hielten wir von 12 bis 1 1/2 Uhr Mittag. Leider regnete es, so daß ich mich nicht umsehen konnte.

Je weiter wir nun in das Maintal hereinkamen, desto schöner wurde die Gegend. Namentlich Kulmbach und die es beherrschende Plassenburg liegt sehr schön. Das herrliche Kloster Banz, wo ich Pfingsten vorm Jahr mit Karl war, erblickten wir nur noch im letzten Schimmer der Abendsonne. Um 6 1/2 Uhr kamen wir in Bamberg an; da die Post hierher erst um 10 Uhr abgeht, machte ich mich mit einem jüdischen Mediziner, der auch hierherging, auf, um währenddessen noch etwas von der Stadt zu sehen. Die Luft war sehr kalt und klar; dabei herrlicher Vollmondschein. Die Stadt schien sehr interessant, altertümlich und hügelig gebaut, besitzt sehr viele Brücken (über die Regnitz) und eine Masse Kirchen (wie auch Würzburg). Von diesen ist der Dom die schönste und größte, auf einem erhabenen freien Platze. Sie ist im reinsten byzantinischen Stil gebaut und von wahrhaft riesigen Verhältnissen. Das prachtvolle Portal besitzt elf herrliche, einander nach außen überragende, höchst kunstvoll und mannigfaltig geschnitzte Bogen. Auch außerdem waren viele herrliche und große Gebäude da; aber alle Straßen waren, trotzdem Messe war, wie ausgestorben, und wir liefen aufs Geratewohl herum, weil niemand da war, den wir fragen konnten. Plötzlich, als wir an einer sehr großen, hellerleuchteten Kirche vorbeikamen, stürzte aus dieser ein ungeheurer Menschenstrom, vermischt mit einer Menge Mönche, Nonnen und Geistliche, die sich zu einer Prozession ordneten, die singend und tobend die Straßen durchzog. Von einem Bürger, bei dem wir uns nach dem Weg erkundigten, erfuhren wir, daß soeben hier wieder die Jesuiten gepredigt hätten, wie sie dies täglich viermal täten. Er räsonierte schrecklich über diesen Unsinn, und behauptete, daß die Jesuiten nur das Volk verführen und verdummen wollten. Mein israelitischer Reisegefährte schien damit gar nicht einverstanden zu sein. Er bedauerte, nicht eher gekommen zu sein, um sie predigen zu hören. Ich saß nachher auch mit ihm auf der Post in einem Kabriolett, wo wir es uns sehr bequem machten und fast die ganze Nacht herrlich schliefen. Übrigens bestehen hier die Postwagen nur aus zwei hintereinander liegenden Kabrioletts, und werden schlecht genug gefahren. Heute früh kamen wir hier an. Bertheau empfing mich auf der Post und nahm mich mit in seine Wohnung, wo ich mit ihm frühstücken mußte. Dann gingen wir in die meinige, die höchstens 30 Schritt davon und ebenso weit von der neuen und der alten Anatomie liegt. Die Wirtsleute empfingen mich sehr freundlich. Hier ist aber auch alles freundlich und dabei schrecklich geschwätzig und neugierig, wodurch die Leute meist unendlich lästig werden.

Über die Wohnung und die Wirtsleute das nächste Mal ausführlicher. Heute will ich einmal ordentlich schlafen, und morgen früh muß der Brief gleich fort, damit ich zu rechter Zeit meinen Paß bekomme. Als ich nämlich die Sachen ausgepackt und mich etwas geruht, ging ich mit B., der überaus freundlich und gefällig ist, sogleich aus, um mich immatrikulieren zu lassen. Dort erfuhr ich, daß ich hierzu einen Reisepaß vom Berliner Polizeipräsidio unbedingt nötig habe. Vater ist also wohl so gut, mich baldmöglichst auf der Polizei abzumelden, mir einen Paß zu verschaffen und diesen sogleich herzuschicken, da ich ihn in 12 Tagen (von heute an) haben muß. - Dann bummelten wir noch etwas in der Stadt umher, gingen auf die schöne Mainbrücke, und dann mit B. zu Tisch, wo ich für 21 Kreuzer recht gut aß. Hierauf führte mich B. in ein Kaffeehaus (man trinkt hier den Kaffee übrigens aus Gläsern) und stellte mich seinen Mannheimer Bekannten vor, die recht nette Leute zu sein scheinen. Um 3 Uhr gingen wir auf die Anatomie; daß ich bei den verschiedenen Anblicken daselbst ein etwas heftiges Kanonenfieber bekam, könnt ihr euch denken. Indes nahm ich mich zusammen, hütete mich, viel umherzugucken und ging frisch dran. Für vier Gulden mußte ich mir eine Sezierkutte kaufen. Es wäre doch gut gewesen, wenn ich einen alten Rock mitgenommen hätte. Um 5 Uhr war ich mit der Präparation des musculus cucullaris fertig, wobei mir auch B. wieder wesentlich geholfen hatte. Ich kann wirklich recht froh sein, daß ich an B. gleich einen Freund gefunden, der mir in allem so behilflich ist und so tüchtigen Beistand in allem leistet. Wenn es morgen wieder schönes Wetter ist, wollen wir zusammen einen Spaziergang machen; die Umgebung scheint zwar bergig, aber ganz waldlos zu sein. Es sind meist Weinberge. Die Zitadelle liegt sehr schön und fast uneinnehmbar fest an an einer sehr steilen, hohen Stelle des Mainufers. Übrigens ist die Stadt wenig befestigt, besitzt aber eine Masse Kirchen und Klöster.

Wenn Ihr den Paß schickt, kannst Du, liebe Mutter, auch wohl etwas Zwirn und Nähnadeln beipacken. Die Konfussion des Briefes rechnet meiner gewaltigen Reisemüdigkeit, die schlechte Handschrift der ganz schauderhaft blassen und klecksigen Tinte zugute.

Herzliche Grüße in Nr. 6 und an unser junges Ehepaar, das Gott ferner schützen und segnen möge. In alter treuer Liebe Euer Ernst H.

B. läßt schön grüßen und auch versichern, daß er mich schon gehörig bemuttern werde.






Inhaltsverzeichnis

Brief 2




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Erstellt von Christoph Sommer am 30.06.1999