Italienfahrt - Ernst Haeckel

Messina, 29. 2. 1860

Brief Nr. 66

Heut ist wieder ein prächtiger Glückstag, der mich mit drei schönen, neuen Radiolarien beschenkt und damit die Zahl der neuentdeckten Arten auf 90 gebracht hat, und da ist es denn wohl nicht mehr als schuldige Pflicht des Danks gegen die gütigen Nereiden, die den deutschen Naturforscher-Liebling mit so überreichen Geschenken erfreuen, daß ich Euch endlich einmal etwas Näheres über meine Lieblingsstudien und über die reizenden Seegeschöpfchen mitteile, die mir diesen Winter in Messina, trotz der schmerzlichen Entbehrung des Liebsten, zu einem der glücklichsten und fruchtbarsten meines Lebens machen. Nicht allein daß von dem Erfolg dieser Arbeit zum größten Teil das Gelingen einer glücklichen Zukunft, der Gewinn einer sicheren Lebensstellung abhängt, nicht allein daß sie mir in diesem Winter im Exil eine unerschöpfliche Quelle der reichsten und edelsten Freuden gewesen ist, nein, auch in anderer Beziehung kann ich dem gütigen Geschick nicht dankbar genug sein, welches mir grade dieses Glückslos zugeworfen hat. Denn erst durch das Vollbringen dieser Aufgabe habe ich mir selbst den Beweis geliefert, daß ich mit Recht hoffen darf, auf dem kühn betretenen Gebiet freier Naturforschung glücklich fortzuschreiten, und daß ich unter günstigen Umständen in der Tat fähig bin, etwas Ordentliches zu leisten, woran ich vorher nie glauben konnte. Hielt ich mich doch früher für ein gänzlich unnützes Geschöpf, das besser im Urwalde verwilderte, als unter Menschen ein fruchtloses Dasein fristete - erst jetzt weiß ich, daß ich denn doch noch zu etwas brauchbar bin und daß ich meinen herrlichen Naturforscherberuf mit Mut und Hoffnung weiter verfolgen darf, daß ich hoffen darf, auch einen tüchtigen Stein zu dem wunderherrlichen Prachtbau der modernen Naturwissenschaft zu liefern, die sich jetzt so kühn und stolz auf den Trümmern gestürzter Vorurteile und abgetaner Verdunkelung erhebt und allein bestimmt ist, Freiheit, Glück und Reife dem ganzen Volk zu bringen und es von den Fesseln der Knechtschaft zu erlösen, in denen es Fürsten und Priester vergeblich niederzuhalten bemüht sind. Gewiß wäre shcon diese volle Entwickelung meines selbstständigen Naturforscherbewußtseins allein die ganze Reise, all die Entbehrungen und Mühen wert - und dieser glückliche Erfolg erfreut mich um so mehr, als ich in der Tat grade beim Beginn meiner Arbeiten am wenigsten auf einen solchen hofffen konnte. Wie düster, trost- und freudlos erschien mir damals, als ich die herrliche erste Hälfte der Reise, den Künstlertraum mit meinem lieben Freunde Allmers abschloß, der hereinbrechende Winter, wie schwarz sah ich in diese nächste Zukunft und was hätte ich darum gegeben, wenn ich ihr auf irgendeine Weise hätte ausweichen können. Und jetzt, wie anders ist das alles gekommen! Um keinen Preis möchte ich jetzt diesen kostbaren Winter missen, der erst voll und wahr die Wiedergeburt meines ganzen inneren Menschen vollendet hat, die in dem ersten, an dem großartigsten Kunst- und Naturgenüssen so überreichen Teil der Reise so glücklich angebahnt war.

Man hat mir oft gesagt, ich sei ein wahres Glücks- und Sonntagskind, und nie habe ich´s glauben wollen; jetzt, wo mir die ganze Fülle meines allseitigen Glücks immer klarer vor Augen tritt, wo ich zum erstenmal voll Mut, Hoffnung und bestimmter Zuversicht in das Leben hinaustreten kann, jetzt möcht´ ich´s beinahe selbst denken. Denn gewiß hätte ich in dem ganzen weiten Gebiet der mir offenstehenden Naturforschung auch beim angestrengtesten Suchen kein passenderes Thema für meine größere Arbeit finden können, als grade das, welches mir der glückliche Zufall hier in die Hände gespielt hat. Es ist eine Arbeit, die grade wie für mich geschaffen ist und die manche ideale Träume meiner ersten Studentenjahre, wo ich zum erstenmal dies Gebiet betrat, zur vollen Wirklichkeit gebracht hat. Und dann konnte ich gewiß auch keinen andern Gegenstand im weiten Gebiet der Zoologie und der vergleichenden Anatomie finden, der grade jetzt meinen so vielfach neu angeregten Strebungen eine passendere Nahrung gegeben hätte. Die Beschäftigung mit meinen Radiolarien, die nun schon über 4 Monate alle meine Zeit und Kräfte fast ausschließlich in Anspruch genommen hat, ist in der Tat von Anfang bis zu Ende, von dem Fangen der Tierchen bis zu dem letzten Bleistrich an der Zeichnung und Beschreibung, so überaus anziehend und lohnend, so eigentümlich und interessant, so poetisch und genußreich, daß man diese Beschäftigung eigentlich nicht Arbeit und Anstrengung, sondern Freude und Genuß nennen darf. Wenigstens ist sie das und wird es tagtäglich mehr für mein Auge und meinen Sinn. Zugleich weicht sie auch so vielfach von den gewöhnlichen zootomischen Arbeiten ab, daß es schon darum der Mühe verlohnt, sie etwas mit anzusehen.

Zuerst also gleich der Fang! Die Tierchen sind sämtlich fast (mit nur wenigen Ausnahmen) mikroskopisch klein, also dem unbewaffneten Auge unsichtbar oder höchstens als feinstes Pünktchen wahrnehmbar. An einen Fang derselben durch die Fischerknaben, die sonst die deutschen Zootomen immer mit dem reichsten Material versorgen, ist also nicht zu denken; will der Naturforscher die süße Beute erobern, so muß er selbst aufs Meer hinaus und sich von den holden Meergöttinnen die ersehnten Geschenke rauben. Das ist denn auch täglich mein erstes Geschäft, womit ich des Tages Lust und Mühe eröffne. Sobald die ersten breiten, roten Streifen des jungen Morgenrots drüben über den kalabrischen Gebirgen aufdämmern, tritt schon der alte Marinar in mein Zimmerchen, der mich in seinem Boote auf die blaue Spiegelfläche des Hafens hinausfährt. Es ist ein origineller, treuherziger, alter Bursch namens Domenico Nina, welche schon alle deutschen Naturforscher, die jemals in Messina gefischt haben, herumgefahren und auch von vielen Zeugnisse seines guten Betragens erhalten hat (z. B. von Troschel, Sandael und Lovèn), wie wir ihm denn bei unserer Abreise auch ein solches versprochen haben. Er trägt nun die beiden Eimer und die zwei feinen Netze hinüber und ich folge ihm mit einer kleinen Gläserbatterie nach. Unsere Fahrt dauert meist 1-2 Stunden und bleibt gewöhnlich auf die engere Gegend des Hafens beschränkt. Dieses enge, runde, nur nach Norden durch ein schmales Tor geöffnete Sichelbecken des Hafens von Messina ist wohl der an Seetieren, an den schönsten und seltensten Geschöpfen reichste Ort, den das ganze Mittelmeer aufzuweisen hat. Es beruht dies auf einer ganz eigentümlichen lokalen Einrichtung, welche alle Schätze nicht nur der Meerenge, sondern auch des ganzen, die Insel rings umspülenden Meeres hier auf engstem Raume massenweis zusammenführt. Das ist die sogenannte "rema" oder der "corrente", d. h. eine Strömung, die ganz regelmäßig in bestimmten Perioden das Wasser der Meerenge in den Hafen hineintreibt und wieder ausführt. Es ist ein Rest der im Mittelmeer sonst wenig merkbaren Ebbe und Flut, übrigens noch nicht hinlänglich aufgeklärt und jedenfalls durch besondere Lokalverhältnisse ganz eigentümlich modifiziert. Dahin gehört besonders die eigentümliche Küstenformatoin beider Ufer der Meerenge, zumal der lange Landarm, welcher in sichelförmiger Biegung des Hafens größte Weite von Osten umgreift. Durch diesen wird gewissermaßen eine Fangtasche, ein Blindsack gebildet, durch welchen die vom Strom, besonders bei günstigem Nordwind, massenweis in den Hafen geführten Tierscharen gefangen und darin zurückgehalten werden. In dieser Nordostecke, unmittelbar zwischen dem dort postierten Fort Salvatore, wo an einem flachen Sandbord die beschädigten Schiffe ausgebessert werden, finden sich denn auch die größten Massen der Tiere oft so millionenweis angehäuft, daß jedes geschöpfte Glas eine ganze Präparatensammlung liefern würde. Der periodische Corrente hat aber auch noch einen andern, den Tierchen besonders günstigen Einfluß auf den Hafen; er spült und wäscht denselben nämlich alltäglich aufs sauberste aus, er fürht allen gewöhnlichen Hafenschmutz weg und hält beständig eine frische Fülle reinsten und klarsten Seewassers im Hafen, der außerdem noch durch seine bedeutende Tiefe und seine vor allen Winden geschützte Lage einen besonders sicheren und angenehmen Wohnort bildet.

Die Radiolarien sind sämtlich ausschließlich pelagische Tierchen, d. h. sie leben nur schwimmend auf der Oberfläche des tiefen Meeres, von der sie nur auf kurze Zeit schwinden, wenn heftige Wellenbewegung und Sturm sie nötigt, sich in einige Tiefe herabzulassen. Dieser Umstand erleichtert ihren Fang sehr, ja, macht ihn eigentlich allein möglich. Man fischt sie nämlich von der Oberfläche, von der sie jeden Quadratfuß zu Hunderten bedecken, mittelst des feinen Mullnetzes weg, eine Methode, die zuerst von Johannes Müller mit dem größten Glück zum Fang aller pelagischen Tiere in weitestem Umfang angewandt wurde und welche die überraschendsten Blicke in eine ganz neue Welt reichsten tierischen Lebens eröffnet hat. Während die Barke durch schwachen Ruderschlag langsam fortbewegt wird, hält man das Netz beständig halb eingetaucht und filtriert so gleichsam eine große Menge Seewasser durch. Von Zeit zu Zeit wird dann das Netz herausgenommen, umgekehrt und der nach außen gewendete Innenteil ausgespült in dem mit Seewasser gefüllten Glas oder Eimer, wo dann die in den Maschen hängengebliebenen feinsten Geschöpfchen wieder frei werden und zu Boden fallen. Dieser Bodensatz in den Gefäßen, von dem das überstehende geklärte Wasser nachher zu Haus abgegossen wird, ist nun eine ganz unerschöpfliche Quelle der reichsten und merkwürdigsten Naturgenüsse, indem er eine Unmasse der merkwürdigsten und interessantesten Geschöpfchen, besonders aber Larven von aller Art, enthält, ja zuweilen ganz allein daraus zusammengesetzt ist. Johannes Müller hat aus dieser herrlichen Fundgrube viele Jahre hindurch unendlichen Stoff zu den schönsten Untersuchungen geschöpft. Auch die verschiedenen Radiolarien sind nun in diesem sogenannten Mulder fast immer massenweis vorhanden; allein trotzdem sind sie, da man nichts mit ihnen anzufangen wußte, eigentlich erst seit 10 Jahren lebend bekanntgeworden, obwohl schon vor 20 Jahren Ehrenberg eine große Anzahl Kieselpanzer von fossilen Arten (in der Mikrogeologie) abgebildet hat.

Ist nun schon diese pelagische Fischerei selbst, besonders bei schönem Wetter, wo die reiche südliche Natur rings um den Hafen im herrlichsten Glanze strahlt, eine überaus anziehende Beschäftigung, so ist das Herausfischen der kleinen Geschöpfchen aus dem dicken Mulder in den Gefäßen noch eine viel feinere, sauere Arbeit. Messer und Pinzette, Nadel und Schere, die sonst bei den meisten anatomischen Arbeiten unentbehrlich sind und einem oft viel Ärger verursachen, ruhen hier gänzlich im Kasten, da natürlich die unsichtbaren Tierchen auch ungreifbar sind. Um ihrer überhaupt habhaft und ansichtig zu werden, ist es nötig, Tropfen für Tropfen genau zu untersuchen, wobei denn freilich oft auf 1000 Nieten nur ein Gewinn kömmt, während andre Male, wie heute und wie am Silvester, auch wohl mal drei Gewinne ein Glückslos krönen. Diese Durchmusterung geschieht nun, indem man die Tropfen aus dem Grunde des Glases mittelst einer Pipette (eines saugenden Glasröhrchens) heraufholt und unter schwache Vergrößerung bringt. Als einziges Instrument dienen außerdem nur noch zwei feinst zugespitzte Holzstäbchen, mittelst deren feinster Haarspitze man verwickelte und gemischte Präparate isolieren und auch auf andere Gläser übertragen kann. Oft muß man auch sehr vorsichtig unter dem Mikroskop das Tierchen damit zu stoßen und nach verschiedenen Seiten zu drehen suchen, um die Form vollständig zu übersehen. Ist nun das kleine Wesen so isoliert und für das große Mikroskop präpariert, so beginnt eigentlich erst die Hauptfreude und die Hauptarbeit, das Zeichnen und Beschreiben, ebenfalls wieder eine sehr subtile und kitzlige Sache, da meist allerlei feine Manipulationen nötig sind, um sich ein vollständiges richtiges Bild von den meist ziemlich komplizierten Formen zu verschaffen und festzuhalten. Die überaus reizenden Formen der Tierchen selbst will ich nicht versuchen, Euch zu beschreiben, da Ihr dadurch doch keine völlige Vorstellung davon erhalten werdet. Meine Abbildungen werden Euch schon erfreuen. Nur einiges Allgemeine! Der Körper besteht aus einem harten und einem weichen Teil; ersterer ist das Kieselskelett, letzerer eine meist kugelige, kleine runde Kapsel, von deren Umfang nach allen Seiten viele hundert äußerst feine Fäden ausstrahlen, mittelst deren sich die Tierchen bewegung und ernähren. Das Kieselskelett bildet meist einen äußerst zierlichen, schönen und regelmäßig modellierten, glashellen Panzer, dessen ungemein mannigfaltige Form fast allein die Gattungen und Arten unterscheiden hilft. Der gemeinsame Grundtypus aller ist strahlig, so daß von einem gedachten oder realen Mittelpunkt zahlreiche gleiche Teile ausgehen. Die meisten Panzer sind sehr niedlich netzförmig durchbrochen, viele höchst kunstreich und fein gegittert, mit vielen Stacheln, Borsten und Anhängen. Die einfachsten Formen sind Stachelsternchen (Acanthometren) und netzige Hohlkugeln (Collosphären). Durch Ausziehen nach verschiedenen Richtungen erhalten aber diese zierlichen Gehäuse die allerwunderbarsten Formen von einem Helm, Turm, Glocke, Kugel, Röhrenstern, Windmühle, Fenster usw. Die Lebenserscheinungen sind nur sehr einfach und dabei sehr schwierig zu beobachten, da die Tierchen äußerst empfindlich gegen alle äußern Einflüsse, schon durch die Berührung mit dem Glas und Netz, sind und unter dem Mikroskop kaum einige Minuten lebend erhalten werden können.

Zum Zeichnen bediene ich mich durchgängig der Camera lucida, da die Formen alle genau mathematisch bestimmt sind und also auch mit mathematischer Treue wiedergegeben werden müssen, besonders was die Größe der Winkel und das relative Verhältnis der einzelnen Teile betrifft. Viele Strukturverhältnisse sind so klein, daß sie nur mit Hilfe der stärksten Vergrößerungen und des schief durchfallenden Lichts erkannt werden können.

Schon an sich sind die meisten Formen so schön, daß sie jedem Naturforscher die größte Freude machen müßten; dazu kommt nun noch die Schwierigkeit ihres Herausfindens und ihrer Behandlung, welche das Interesse doppelt erhöht. Für mich erhält sie aber noch besondern Reiz durch die liebe Erinnerung an das genußreiche Studium der niedersten Pflanzenformen, der Algen und Moose, deren kaum minder zierliche Formen, in vieler Beziehung verwandt, mich in meinen ersten Studentenjahren so unendlich ergötzten. Freilich ist das Vergnügen jetzt noch ungleich größer, wo die Arbeit immer im Hinblick auf ein festes, vollauf lohnendes Ziel betrieben wird und wo außerdem mehr als die Hälfte der gefundenen Formen ganz neu ist und also zuerst von mir gesehen, beschrieben, gezeichnet und getauft wird. Abgesehen von den vielen, von Ehrenberg beschriebenen Panzern der fossilen Arten, welche meist oder alle nicht mehr lebend vorzukommen scheinen, sind bisher nur von Joh. Müller und Claparède lebende Radiolarien beschrieben worden, von ersterem in seinem Fundamentalwerk "Über die Thalassicolen, Polycystinen und Acanthometren des Mittelmeers", welches jetzt mein Evangelium hier ist, das ich schon halb auswendig kann. Er stellte darin zuerst die Grenzen der ganzen Klasse fest (Radiolarien oder radiäre Rhizopoden, als eine Hälfte der Rhizopoden; die anderen sind die Polythalamien) - und beschrieb 50 Arten, in den letzten 3 Jahren seines Lebens auf drei Reisen ans Mittelmeer beobachtet. Hoffentlich erreiche ich in den nächsten Tagen das Doppelte dieser Zahl und kann dann im höchsten Grad befriedigt und glücklich meine Untersuchungen schließen . . .


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Diese Seite wurde erstellt am 9. August 1999