Italienfahrt - Ernst Haeckel

Messina, 28. 1. 1860

Brief Nr. 62

. . . Am Montag gabe es ein gewaltiges Geschützdonnern, da man des Königs von Neapel Geburtstag, der duch massenhaftes Kanonenschießen von allen Forts und Kriegsschiffen salutiert wurde, feierte. Besonders gefeiert sollte er wreden durch die Enthüllung des Denkmals Karls III.; doch weinte der Himmel den ganzen Tag aus Mitgefühl mit den unterdrückten Sizilianern und schickte am Geburtstage ihres "von Gottes Gnaden Tyranns" so beständige Regenströme herunter, daß eine wirkliche Feier, ausgenommen den unvermeidlichen Götzendienst in den Kirchen, nicht zustande kam. Nur abends war offizielle Illumination der öffentlichen Gebäude (alle Privathäuser blieben ganz dunkel) und große Galavorstellung in dem neuen Stadttheater . . .

Die Galavorstellung im Theater bekam ich zufällig auch zu sehen. Sarauws nämlich, die eine ganze Loge im Abonnement haben, hatten diese dem Dr. v. B. und den drei deutschen Naturforschern für diesen Abend angeboten. Meine Freunde wollten nicht hingehen, weil sie keine weiße Halsbinde (die dabei unvermeidlich ist) hatten. Ich hatte auch keine, improvisierte mir aber ein durch das sehr einfache Surrogat eines um den Hals gebundenen Schnupftuches. Eigentlich war mirīs mehr darum zu tun, überhaupt einmal das hiesige Theater zu sehen (ich war in Sizilien noch nie im Theater gewesen), als grade speziell die Galaoper. Doch amüsierte mich nachher der dabei stattfindende Schwindel sehr, wobei der rein auf das Äußerliche, auf "Sehen und Gesehenwerden" gerichtete Sinn der Sizilianer reiche Nahrung und Gelegenheit find, sich in seiner ganzen Grandezza zu entfalten. Die Vorstellung begann mit einem höchst feierlichen und abgeschmackten Hymnus auf den König, dem natürlich alle möglichen Tugenden und edlen Eigenschaften zugeschrieben wurden, von denen er keine einzige besitzt. Nach Beendigung desselben erhob sich der in der Loge gegenüber der meinigen befindliche Gouverneur (Intendente) der Provinz Messina und brachte ein dreimaliges Hoch auf den König aus, wobei alle Anwesenden sich erhoben und mit brüllten: "Evviva il re!" Ich schrie natürlich nicht mit und war überdem so durch den vorhergehenden Akt gelangweilt, daß ich mit meinen Gedanken längst nach Berlin spaziert war und gar nicht bemerkte, wie alles ringsumher sich erhoben hatte. Dieser unschuldige Formfehler wurde Ursache eines sehr komischen, auch etwas ärgerlichen Auftritts, der uns nachher sehr amüsiert hat. Herr Sarauw wurde nämlich am folgenden Tage auf die Polizei zitiert und vom Gouverneur sehr genau über die Personalien des Individuums examiniert, welches gestern abend allein in seiner Loge gesessen und der einzige Mensch im ganzen Theater gewesen sei, der den schuldigen Respekt gegen S. M. versäumt und weder aufgestanden sei, wie alles sich erhob, noch in das Evviva-Rufen eingestimmt habe. Da Herr Sarauw gut bei dem Gouverneur angeschrieben und als der rechtlichste Kaufmann hier sehr angesehen ist, so konnte er sich noch ziemlich gut helfen und mich aus der Schlinge ziehen, die im andern Falle vielleicht eine Ausweisung zur Folge gehabt hätte. Er antwortete: "Eh, cīé un naturalista tedesco, che non connosce līuso del paese, e i suoi persieri sempre stanno colle sua spose, molto, molto, molto lontano da qui!" (Je nun, es ist ein deutscher Naturforscher, der die Landessitte nicht kennt; auch sind seine Gedanken immer bei seiner Braut, weit, weit von hier!) Du hast also die Ehre gehabt, Deinen Bräutigam aus den Klauen des Gouverneurs von Messina zu retten!! Du kannst denken, wie wir nachher über die Geschichte gelacht haben und wie ich immer damit aufgezogen werde. Es war das beste des ganzen Theaterabends, der übrigens recht langweilig war; nach dem Festschmaus kam eine höchst alberne Buffaoper, deren Kern darauf hinausläuft, daß ein hübsches junges Mädchen, die einen alten Geldsack geheiratet hat, diesen nachher durchprügelt und sich daneben ihren speziellen Hausfreund, "amico di casa" hält, in den Ehen Italiens, wenigstens des südlichen, eine stehende Person, von der man sich bei uns gewiß, Gott sei Dank, kaum eine Vorstellung machen kann. Nach dieser dummen Oper kam ein noch alberneres Ballet, wesentlich die Unbehilflichkeit und das täppische Benehmen eines Engländers verunglimpfend, welcher von zwei Sizilianern auf alle Weise verhöhnt und zum besten gehalten wird, - ein Lieblingsthema der Italiener, wobei sie nur leider immer wieder vergessen, daß die Inglesi und Tedeschi statt der mangelnden Grandezza und Allegrezza tausend andere und wirklich gute Eigenschaften besitzen, von denen man hier keine einzige finden kann. Die ganze Geschichte, besonders auch das widerwärtig eitle, gespreizte und glänzenwollende Gebaren des sehr bunt und stutzerig gekleideten Publikums, vergegenwärtigten mir wieder recht lebhaft den großen Grundunterschied der germanischen und romanischen Nationen, die ersteren ebenso nach dem Kern und innern Wesen aller Dinge strebend, als die letzteren nach äußeren, hohlen Schale.  . . .

Ich werde mich überhaupt nie mit dem italienischen Nationalcharakter befreunden können; ich habe hier, besonders in dem täglichen Verkehr mit den Fischern, Schifferjungen usw., noch sehr viel Gelegenheit, meine Kenntnisse darin zu erweitern; aber je weiter ich komme und je mehr ich das Ganze in seiner Eigentümlichkeit verstehen und zusammenfassen lerne, desto mehr stößt es mich ab. -  . . .

Seitdem die beiden Lüneburger hier sind, mit denen wir (Dr. v. B. und ich) zusammen essen und nachher meist noch 1 Stündchen plaudern, werde ich viel mehr geneckt, und Du bist das tägliche Tsichgespräch. Besonders Herr Ehlers behauptet immer, wenn mal wieder heim käme, würdest Du mich längst vergessen haben und würdest einen so verwilderten Wanderburschen überhaupt nie wieder zu Gnaden annehmen. Auch wollte er Dir nächstens mal schreiben, daß ich Dir ganz untreu geworden sei; mein Herz gehöre jetzt so ausschließlich den kieselpanzrigen Radiolarien und Akanthometren, daß für die kleine Anna gar kein Platz mehr darin sei! Das weißt Du aber besser, gelt, mein kleiner Strick?  . . .

Denke Dir, heute habe ich bereits mein fünfzigstes neues Tierchen entdeckt, ein reizendes Geschöpfchen mit zierlich gegittertem und mit 100 Strahlen besetzten Kieselpanzer, niedlich und fein wie alle die 49 andern, die alle auch schon bereits getauft sind und den Namen Deines Schatzes, wenn auch nur auf der niedersten Stufe der Tierwelt, verewigen werden. Du kannst denken, daß das auch meiner Eitelkeit nicht wenig schmeichelt!  . . .

Vater lassī ich bitten, in den nächsten Briefen etwas über die Tätigkeit der Kammer zu schreiben, da wir hier kaum aus den Zeitungen etwas darüber erfahren. Über die neuesten Veränderungen in den französischen und italienischen Ministerien, besonders über die Ernennung Cavours, der doch am Ende der einzige ist, eine Befreiung Nord- und Mittelitaliens durchzuführen, haben wir uns sehr gefreut. Sind diese Völker nur erst von ihren alten, jämmerlichen Regierungen dauernd befreit, so läßt sich gewiß noch was aus ihnen machen, da es ihnen an natürlichem Talent nicht fehlt. Bei den Italienern des Südens wird das viel schwerer halten, da sie auch in den Grundbegriffen der Bildung und ordentlichen Staatseinrichtung noch zu weit zurück sind. Freilich ist auch die Regierung dementsprechend auch nur um so elender . . .


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