Italienfahrt - Ernst Haeckel

Messina, 6. 1. 1860

Brief Nr. 61

Die erste Woche des neuen Jahres ist nun vorüber, meine liebste Änni, und ich kann Dir berichten, daß das schöne Glück, welches mich im Dezember bei meinen Arbeiten begünstigte, mir auch im neuen Jahre treu bleiben zu wollen scheint. Montag, 2. 1., fuhr ich früh wieder in den Hafen und hatte meinen zarten Freundinnen, den Nereiden (auf die Du eigentlich recht eifersüchtig sein müßtest!), besonderen Dank gelobt, wenn sie mir am ersten Arbeitstage 1860 als besonderes Omen ein recbht hübsches neues Tierchen bescheren wollten. Und richtig! Der erste Wassertropfen, den ich mit meinem feinen Glasröhrchen heraufholte und unter das Mikroskop brachte, enthielt eine reizende, neue Acanthometra (einen Stachelsterm mit höchst zierliche gearbeiteten Kieselstrahlen), deren Studium mir besonderes Vergnügen gemacht hat. Und außerdem wurde ich noch an demselben Tage durch den Fund von zwei anderen kleinen reizenden Geschöpfchen erfreut: ein ungemein zartes Haliomma (Seeauge) und eine sehr prächtige Diatomee; auch an den folgenden Tagen floß bei dem schönen Wetter das köstliche Material wieder so reichlich zu, daß der kurze Wintertag (trotzdem er hier 2 Stunden länger als bei Euch ist) nicht ausreichte und ich die Nacht zu Hilfe nehmen mußte. Leider werde ich das Nachtarbeiten mit dem Mikroskop wohl wieder aufstecken müssen, da meine empfindlichen Augen das Mikroskopieren bei Lampenlicht, welches andere Mikroskopiker sehr gut aushalten, nicht lange vertragen zu können scheinen. So gut ich sonst das nächtliche Durcharbeiten, das Auführen und Beschreiben der Zeichnungen vertrage (ich komme selten vor 1 Uhr, häufig auch erst um 2 oder 3 Uhr zu Bett und bin immer um 7 Uhr schon wieder auf den Beinen)-, so scheint das nächtliche Beobachten doch auf die Dauer nicht durchzuführen zu sein. Ich habe recht auf den dummen Kadaver gescholten; er kehrt sich aber nicht daran und scheint seine 5-6 Stunden Schlaf doch täglich haben zu wollen. Könnte ich doch einen der vielen gelangweilten Menschen seine Zeit abnehmen!

Im übrigen hat das neue Jahr etwas Abwechslung und neues Treiben in mein einförmiges Studienleben gebracht, indem am Mittwoch die beiden Göttinger Naturforscher Dr. Keferstein und stud. Ehlers aus Lüneburg von Neapel hier angekommen sind, um ebenfalls bis zum April hier zu arbeiten. Sie haben die letzten drei Monate in Neapel verbracht, wo sie ein paar Tage vor meiner Abreise mit Dr. Binz zusammen ankamen. Es scheinen sehr nette, gescheute und strebsame junge Leute zu sein, und so hat diese Gesellschaft, die unter anderen Umständen sehr hinderlich sein könnte, viel Angenehmes. Freilich verliere ich dadurch das Monopol der zoologischen Schätze des Hafens von Messina. Allein, diese sind so unerschöpflich reich, daß sie noch hundert andere Zoologen gleichzeitig beschäftigen könnten . . .


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Diese Seite wurde erstellt am 9. August 1999