Italienfahrt - Ernst Haeckel

Messina, 29. 10. 1859

Brief Nr. 50

Die ersten 14 Tage in dem bedeutungsvollen Winterquartier von Messina sind also glücklich fast vorbei, ihr Lieben, und ich kann Euch aus meinem stillen Studierstübchen, in dem ich mich schon recht eingewohnt habe, mit mehr Ruhe und Zufriedenheit meinen Gruß senden, als ich anfangs gedacht habe. Die zahlreichen Schwierigkeiten, die mich anfangs hier umgaben, und die noch zahlreicheren, die meine hoffnungslose, vor der ungewissen Zukunft bange Phantasie mir vorgespiegelt hatte, beginnen sich zu zerstreuen, und ich fange an, dem Winter, vor dem ich mich so sehr scheute, mit mehr Ruhe, ja mit ziemlicher Hoffnung entgegen zu sehen. Was vor allem die Hauptsache betrifft, meine zoologischen und anatomischen Arbeiten, so hat sich deren Anfang gleich sehr günstig gestaltet, und ich bin von einer so reichen, täglich wachsenden Fülle des schönsten und interessantesten Materials umgeben, daß ich in dieser Beziehung doch alle meine ziemlich hoch gespannten Erwartungen übertroffen finde. Brachte mich in Neapel der ewige Mangel des Stoffes zur Verzweiflung, so könnte es hier der Überfluß tun; in den letzten Tagen hat es sich wirklich schon so massenhaft gehäuft, daß ich kaum mehr weiß, wohin damit. Heute allein erhielt ich von den Fischerjungen, die immer truppenweis kommen, nicht weniger als sechs Lieferungen, von denen jede einzelne so reich war, daß sie mir allein Stoff zu interessanter Arbeit für mehr als einen Monat geliefert hätte. Es war so arg, daß ich eigentlich gar nicht zum Arbeiten kam, sondern immer nur ein Glas nach dem andern in die Hand nahm und voller Verwunderung die Masse der seltenen Naturwunder anstarrte, die meine Seemenagerie mir in bunter Fülle darbot. Gibt es ein deprimierendes Gefühl dabei, so ist es das der völligen Unzulänglichkeit der Kraft, das Unterliegen unter dem überwältigenden Stoff. Man möchte sich 100 verschiedene Augen und Hände wünschen, um all die herrlichen Gelegenheiten gehörig auszunutzen. Die ansehnliche Batterie von Gläsern, die ich mir erst vorgestern gekauft und von der ich gedacht, daß sie auf Monate reichen würde, ist jetzt schon fast gefüllt, und Hunderte der merkwürdigsten, schönsten und seltensten Seewunder treiben sich darin herum. Messina hat seinen Ruf als Eldorado der Zoologie gewiß mit vollem Recht, und ich begreife jetzt die Begeisterung meienr hier stationiert gewesenen Freunde für diesen überaus reichen Glückshafen, der hoffentlich auch für mich die ergiebigste Quelle innern und äußern Glücks werden wird.

Ich bin noch zu verwirrt von der überwältigenden Fülle der neuen Herrlichkeiten, um Euch einen anschaulichen Überblick davon geben zu können. Nicht nur einzelne seltene Arten und Gattungen, nein, ganze Familien und Ordnungen, ja sogar ganze Klassen, von denen ich noch fast nichts aus eigener Anschauung kannte, erschließen sich hier in reichster Fülle, und noch dazu grade die allermerkwürdigsten und schönsten Tierformen, all die herrlichen, durchsichtigen, pelagischen, nur auf hoher See schwimmenden Tiere, die aussehen wie lauter feine Kunstwerke aus Edelsteinen oder buntem Kristallglas; die alles an Schönheit übertreffenden Siphonophoren, die Pteropoden, Heteropoden, die Thalassicolen und Actinometren, die Ciliograden und Medusen usw. usw. Habe ich den ganzen Winter hindurch auch nur den zehnten Teil der jetzigen Fülle des Materials, so will ich schon sehr zufrieden sein, und der Erfolg, denke ich kann nicht ausbleiben. Jedenfalls sind hier die günstigsten Bedingungen im größten Maßstabe vorhanden, und bringe ich hier keine ordentlich Arbeit zustande, so bin ich überhaupt dazu nicht fähig. Stelle ich mir diesen schlimmsten Fall vor, daß auch hier meine Anstrengungen ohne Resultat sein werden, so steht immer noch tröstend der Landschaftsmaler im Hintergrund, eine Idee, welche infolge der letzten Reise und des künstlerisch bildenden Einflusses von Hermann Allmers doch ziemlich tief Wurzel gefaßt hat und die, wenn auch (wie voraus zu hoffen!) der Naturforscher über den Landschaftsmaler siegt, wenigstens die schöne Folge haben wird, daß ich für alle kommenden Mußestunden in meiner dilettierenden Öl- und Wassermalerei eine neue, reiche Quelle bleibender Naturgenüsse haben werde.

Wie es mit der Arbeit schon jetzt viel besser geht, als ich gehofft, so haben sich auch meine häuslichen Einrichtungen viel angenehmer gestaltet, als es anfangs den Anschein hatte. In meinem kleinen, gemütlichen Dachstübchen im vierten Stock habe ich mich sehr behaglich eingerichtet und finde es jetzt so recht nach meinem Geschmack; d. h. die Einrichtung ist für meine Arbeit ganz brauchbar, das Meublement ohne alle Eleganz, äußerst einfach; dafür entzückt mich aber bei jedem Blick aus meinen kleinen Fenstern die herrlichste Aussicht, welche man hier überhaupt haben kann. Das Hotel Victoria ist nämlich ein Haus der Palazza (Palastreiche); so heißt die stattliche Reihe gleichhoher, imposanter, durch hohe, vorspringende Säulen gestützter Prachthäuser, welche wie ein einziger großer Palast an dem westlichen Kai des herrlichen Hafens sich herumziehen. Letzteren übersehe ich von meinem hohen Nest aus (viel besser als aus den schönen Zimmern im ersten Stock) in seiner ganzen Ausdehnung und noch weit darüber hinweg die ganze herrliche Meerenge, über der jenseits die Berge Calabriens in so großartigen Formen und so reicher Farbenpracht emporsteigen, daß sie nur zu oft das lüsterne Auge von dem Mikroskop ablenken. Von der mir grade gegenüber hinter ihnen aufgehenden Sonne trifft mich früh der erste Strahl; um 9-10 Uhr verläßt sie mein Zimmerchen, und ich behalte dann den ganzen Tag über das beste indirekte Licht zum Mikroskopieren, von welchem mein in der unteren Hälfte durch ein starkes Gitter geschütztes, etwa 3 Fuß hohes und 4 Fuß breites Fenster grade genug einläßt, um mir einen schön begrenzten Lichkegel zu liefern . . .

Mein regulärer Lebenslauf in diesem kleinen behaglichen Winterquartier hat sich vorläufig zu folgender Zeiteinteilung gestaltet: sobald die erste Morgendämmerung den Hafen erhellt, klopft es an die Tür, und der zoologische Leibmarinar, Domenico Nina, holt mich an den Kai hinunter und fährt mich in die Mitte des Hafens, wo ich zum Entsetzen der gesitteten Messinesen (die wie die Neapolitaner nur im Juli und August Bäder für möglich halten, und nicht mehr als 20 im Jahr!) mein kühles, erfrischendes Morgenbad in der tiefblauen, klaren Salzflut nehme. (NB. Da ich von Ende März an beinahe täglich ein Seebad genommen habe, wird deren Zahl in diesem Jahr bald 200 überstiegen haben, und allen Prophezeiungen zum Trotz bin ich dabei immer nur stärker, kräftiger und gesünder geworden!) Ich denke es noch den ganzen Winter durch fortzusetzen. Nach dem Seebad besuche ich den Fischmarkt, der sehr bequem grade unter meinem Fenster liegt, und springe dann meine 118 Stufen rasch wieder hinauf. Während ich dann die Arbeit des Tages vorbereite, erscheint gewöhnlich um 8 Uhr der Kellner, Domenico Altheimer (ein verdorbener bayrischer Mediziner, übrigens ein sehr guter Kerl) und bringt mir mein Frühstück, aus Milchkaffee, Butterbrot und zwei Eiern bestehend. Nachher springe ich meist eben noch einmal zum Fischmarkt hinunter, um zu sehen, ob inzwischen nichts Merkwürdiges noch angekommen ist, und fange dann an zu mikroskopieren, ununterbrochen bis 4 1/2 - 5 Uhr fortgesetzt und nur von den ab und zu erscheinenden Fischerjungen unterbrochen, die mir meine köstlichen Schätze bringen. Gegen 5 Uhr nachmittags werde ich, meist zu früh, zum Mittagessen abgerufen, packe rasch die Mikroskope zusammen und begebe mich in das Zimmer Nr. 1, wo meine beiden Stubennachbarn, Dr. Edmund von Bartels und der französische Gesandtschaftssekretär Clavier, sehnsüchtig auf mich warten.

Unsere Tafel ist, wenigstens in Anbetracht sizilischer Zustände, leidlich gut: Suppe, Fisch, sogenannter Braten (eigentlich nur getrocknete Sehnen, Bänder und im günstigsten Fall Bindegewebe und Knochen!) und etwas Früchte, dazu saurer Rotwein und zum Schluß eine sehr gute Tasse schwarzen Kaffees, der als treffliches Anti-Boa sogleich wieder denk- und arbeitsfähig macht. Meist plaudern wir aber noch ein wenig, was, da die Konversation nur in französischer Sprache geführt wird, meiner großen Ungeschicklichkeit in letzterer bedeutend aufhilft. Oft gehe ich auch noch ein halbes Stündchen an den Kai hinunter und ergötze mich an dem Seeleuchten und dem Wellenplätschern, das mir immer ganz besondere Freude macht. Spätestens um 7 1/2 Uhr sitze ich dann wieder an meinem Schreibpult, wo ich die Arbeit des Tages nochmals durchgehe, die Notizen vervollständige und über die einschlagenden Fragen nachlese oder (wie heute abend) mich mit meinen Lieben in der Heimat unterhalte. Vor 12 Uhr komme ich nicht zu Bett, schlafe dann aber auch ganz trefflich. So hat sich meine Zeiteinteilung, bei der mir die Stunden überaus rasch verstreichen, gestaltet, und so wird sie wohl auch bleiben. In Gesellschaft werde ich nur sehr wenig gehen, höchstens öfter zu Klostermanns, obwohl ich sonst bei den zahlreichen Deutschen, an die ich noch durch Heinrich Müller empfohlen bin, Gelegenheit genug hätte. Mein nächster und natürlichster Umgang wird Dr. Bartels bleiben, obgleich wir sehr verschieden und zum Teil entgegengesetzte Naturen sind, was mir nach dem langen, vollkommen harmonischen Zusammenleben mit dem lieben Allmers doppelt auffällt. Doch hat mich B. so sehr freundlich aufgenommen und mir gleich bei der ersten Einrichtung, was das allerschwierigste ist, so geholfen, daß ich ihm sehr verpflichtet bin und auf sein freundschaftliches Entgegenkommen eingehen werde; da er immer noch krank ist, hätte ich beste Gelegenheit, ihm gute Dienste zu leisten, wenn nicht grade das unbedingte, mir ganz unbegreifliche Vertrauen, das er in meine ärztlichen Kenntnisse setzt, von denen er sicher Heilung erwartet, mir höchst peinlich wäre und mich weniger offen und frei mit ihm umgehen läßt, als ich sonst mir es jetzt zur Gewohnheit gemacht habe. B. ist nicht viel älter als ich und hat wenige Jahre vor mir in Würzburg studiert; er scheint mir als Arzt recht tüchtig und hat ganz ausgezeichnetes Talent für Musik und für Sprachen (er spricht fast alle europäischen Sprachen, sogar auch die slawischen). Doch hat er wenig jugendlich Frisches und macht im ganzen einen melancholischen, ja stellenweis sogar misanthropischen Eindruck. Zu andern Zeiten wäre er recht geeignet gewesen, um meinen schwarzen Lebensanschauungen nur noch dunklere Farben zu geben. Jetzt, wo ich eben, besonders durch Allmers Einfluß, einen neuen, frischen Aufschwung zu frischem, kräftigem Leben genommen habe, will mir der düstere, traurige Sinn nicht zusagen. -  . . .


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