Italienfahrt - Ernst Haeckel

Messina, 21. 10. 1859

Brief Nr. 48

Die ersten Tage in Messina sind nun glücklich vorüber, und heute ist auch der erste ordentliche Arbeitstag vergangen, und ich sende Dir, bester Schatz, und Euch, liebste Eltern, den ersten Gruß aus meinem kleinen Winterquartier, in dem ich nun endlich festen Fuß gefaßt habe. Ehe ich ganz ruhig und klar, fest und sicher im Streben und Arbeiten bin, wird jedoch wohl noch einige Zeit wieder vergehen, da der Sturm und Kampf widerstrebender Gefühle und Gedanken, die mich in den letzten Tagen bewegten, zu wild und heftig war, um rasch wieder die Wogen der hochgehenden See sich glätten zu lassen. Dieses vielfach verwickelte Ringen und Gegenstreben der verschiedenen Anfechtungen und Gedanken ist in allen Übergangsperioden sehr natürlich, bei mir immer sehr ausgeprägt gewesen, diesmal aber besonders stark, wie das ja auch wohl sehr natürlich ist bei dem Abschluß des höchst bedeutenden Lebensabschnittes, den ich in den letzten 4 Monaten zurückgelegt.

Jetzt habe ich nun den dritten und letzten Abschnitt der italischen Reise begonnen, der zwar äußerlich (im Vergleich zu den beiden ersten) sehr ruhig und gleichmäßig sich abwickeln wird, von dem ich jedoch hoffen muß (wenn auch vorläufig noch nicht recht kann), daß er für meine wissenschaftliche Ausbildung und für die Begründung meines Fortkommens als Philister (wollte sagen: Professor!) ebenso fruchtbar und glückbringend sein wird, als es der mittlere zweite Abschnitt für meine allgemeine menschliche Ausbildung und meinen Aufschwung zum dilettierenden Landschaftsmaler gewesen ist. An Menge, Großartigkeit, Schönheit und Verschiedenheit der herrlichsten Eindrücke und Bilder waren diese letzten vier Wandermonate so reich, wie wohl keine andere Zeit meines Lebens, wenigstens, wenn ich dazu die Fülle neuer, fruchtbarer Gedanken und Ideen rechne, die ungemeine Horizonterweiterung, welche mir durch die unschätzbare Gesellschaft meines lieben, herrlichen Freundes Hermann Allmers geworden ist. Kaum hat einer meiner andern Freunde (mit Ausnahme vielleicht nur Beckmanns) einen so bedeutenden, anregenden und bildenden Einfluß auf meine ganze geistige Entwicklung ausgeübt, und daß ich diesen herrlichen, ausgezeichneten Mann grade hier kennen lernen und mit ihm die vier reichsten italischen Wandermonate in stetem herzlichsten Beisammensein gemeinsam durchleben konnte, ist ein Glück, das ich nicht hoch genug zu schätzen weiß und das bedeutendste Moment vielleicht für die ganze Reise. Habe ich eins dabei sehr zu bedauern, so ist es dan, daß ich A. nicht bereits in Rom habe kennen gelernt, wo er mir die Augen für die antike Welt noch ganz anders würde geöffnet haben. Ich sah ihn dort einmal im Vatikan eine Statue abzeichnen, und der begeisterte Eifer, mit dem er dies tat, fiel mir so auf, daß ich, zumal ich gleich erkannte, daß er auch ein Deutscher war, ihn beinah angeredet hätte. Hätte ich dies doch damals getan, mit was für andern, tausendfach reicheren und gebildeteren Anschauungen würde ich Rom dann verlassen haben. Wenn ich bedenke, wie er mir durch seine höchst anregende, lebendige Schwärmerei für das Mittelalter, für christliche Kunst, moderne Malerei, normannische und sarazenische Architektur usw., lauter Dinge, die mir sonst völlig gleichgültig waren, lebhaftes Interesse und tiefes Verständnis eingeflößt hat, wie würden wir erst in der hellenischen Antike, für die wir beide gleiche Begeisterung und innige Verehrung teilen, in Rom zusammen geschwelgt haben. Teilweise konnten wir das noch nachholen im Museo Borbonico zu Neapel, wo wir in der Statuengalerie, besonders aber bei den pompejischen Wandgemälden, die glücklichsten Stunden zusammen verlebten. Wie anders wäre das freilich in Rom geworden, wo ich auf jeden Schritt und Tritt aus seinem Mund würde Belehrung empfangen haben über die allenthalben angehäuften Schätze der Archtektur, Skulptur, Malerei usw.

Wie schwer mir nach allem diesem der Abschied von A. am 17. 10. wurde, wo er mit dem Dampfer nach Civita vecchia abfuhr, könnt Ihr denken; ja, mehereremal machte sich der Gedanke geltend, ob es nicht viel besser sei, mit ihm fortzudampfen und in seiner Gesellschaft in Rom noch einen Monat zuzubringen, der dann wohl ganz andere Früchte noch tragen sollte, als jener März, den ich allein dort verlebte. Besonders verführerisch lockte mich dabei die Aussicht, mich in der Landschaftsmalerei dort ordentlich ausbilden zu können, was jetzt mein sehnlichster Wunsch ist. Ja, dieser Wunsch war so lebhaft geworden in den letzten Wochen, daß ich mehr als einmal ganz ernstlich daran gedacht habe, die Naturwissenschaft vorläufig an den Nagel zu hängen und erst mein Talent zu jener herrlichen Kunst etwas zu kultivieren. Ist dieses auch nicht ausgezeichnet, so scheint es mir, wenigstens nach den Äußerungen der Maler, die meine Skizzen und Aquarelle in den letzten Monaten gesehen haben, hinreichend, um, in Verbindung mit meinen naturwissenschaftlichen, besonders aber botanischen Neigungen und Kenntnissen, einen Zweig der Landschaftsmalerei mit Glück zu kultivieren, der für das allgemeine geographische Naturgemälde sehr bedeutsam ist und auch eine von Humboldts Lieblingsneigungen war: die Vegetationsansichten nämlich, die bisher so sehr vernachlässigt und doch für die allgemeinere Botanik und Geographie, für die Physiognomik, Ästhetik und Geographie der Pflanzen usw. usw. von höchstem Interesse sind. Die charakteristischen Vegetationsbilder, die ich mehrfach aus unserer Reise, schon auf Ischia und Capri, dann an den Küsten Siziliens, besonders aber in Palermo getroffen und skizziert habe, haben das lebhafte Interesse für diesen wissenschaftlich und ästhetisch gleichbedeutenden Zweig der Landschaftsmalerei, für den ich von Kind auf, ganz unbewußt, eine große Vorliebe hatte, nun geweckt und so verstärkt, daß ich ihr allein wohl mein ganzes Leben widmen könnte. Vielleicht ist auch noch nie der Umstand meiner Verlobung so bedeutend in die Wagschale gefallen, wie grade jetzt, denn hätte ich nicht jetzt meinen allerliebsten Schatz und müßte ich nicht, um ihn mir heimholen zu können, vor allem danach streben, mir für mein naturwissenschaftliches, d. h. zoologisch-anatomisches Arbeiten eine ernährende Stellung zu fixieren, so würden jetzt wahrscheinlich die landschaftlich-malerischen Neigungen im Verein mit den alten botanischen und den Wandergelüsten ganz die Oberhand bekommen haben; die Phantasie hätte über den Verstand gesiegt; ich wäre mit A. nach Rom zurückgegangen, hätte mich dort zum Landschaftsmaler ausgebildet und wäre dann doch noch nach den Tropen gezogen, dem uralten Ziel meiner Wanderwünsche von Kindheit an, nach dem die Sehnsucht durch den bezaubernden Anblick der Palmen und Bananen, der baumartigen Lilien und Farnkräuter, der Lianen und Kaktusbäume in dem unvergleichlichen tropischen Butera-Garten nun aufs lebhafteste angeregt ist.

Bin ich auch augenblicklich ganz zufrieden, nach den vier unruhigen, bunten, bewegten Wandermonaten hier einen Ruhepunkt mit festem Ziel gefunden zu haben, so ist doch andererseits mit der gesteigerten Fähigkeit zu großen Reisen auch die Lust bedeutend gewachsen. Die mannigfachsten großen Strapazen, die ich alle trefflich bestanden und nach denen sich mein Körper kräftiger und gesunder denn je fühlt, die Leichtigkeit, mit der ich in den urzuständlichen Kulturmangel Innersiziliens, in die fremde Sprache und Lebensweise gefunden, und die reiche Ausbeute, die ich an naturwissenschaftlichen Kenntnissen und Anschauungen und landschaftlichen Bildern davon mitgebracht - dies alles hat meine Reiselust trotz der augenblicklichen Übersättigung bedeutend gesteigert, und wenn ich rasch nach den Tropen könnte, möcht ich´s schon! Indes leider - oder , wie Du, liebe Mutter, sagen wirst, glücklicherweise - "ist dafür gesorgt, daß die Bäume nicht in den Himmel wachsen" - und so wird´s denn mit dem schönen Plane einer vergleichenden Sammlung verschiedener Vegetationsbilder aus allen Ländern wohl "beim frommen Wunsche" bleiben, und aus dem geträumten kühnen Reisenden und wilden Landschaftsmaler, der alle Zonen vom Eismeer bis zum Äquator mit seinem Pinsel durchmißt, entwickelt sich ein sehr zahmer Privatdozent oder glücklichstenfalls ein getrockneter und gepreßter Professor, der in Jena oder Freiburg, oder Tübingen, oder Königsberg oder auf irgendeiner andern kleinen Duodezuniversität allsemesterlich seine 1 1/2 - 3 Zuhörer - herauf, herab und quer und krumm an der Nase herumführt. Ich kann das heut abend, nachdem mir gleich am ersten Arbeitstage heut eine Fülle herrlichen Materials zugeflossen ist und mir Mut für den ganzen Winter gemacht hat, schon mit einem gewissen entsagenden Gleichmut oder einer Art wehmütigen Humors hinschreiben; in den vorigen Tagen war´s aber ernster mit der Wehmut, und der Gedanke, der Landschaftsmalerei nun wieder, aber wer weiß wie lange Zeit, Valet zu sagen, den grübelnden, nüchternen Verstand an die Stelle der lebendig schaffenden Phantasie zu setzen und alle Zeit an die Betrachtung von wunderbaren Rätseln zu setzen, die wir doch nie ergründen werden - wollte mir durchaus nicht munden. Ja, die ersten Tage war ich sogar recht unglücklich, und es ist gut, daß ich Euch da keinen Brief geschrieben habe, der gewiß recht lamentabel ausgefallen wär´. Erst infolge des heutigen glücklichen Arbeitsanfangs, der mir mehr interessante, kleine Bestien geliefert, als die paar Monate in Neapel, und der mir die Schilderungen von dem außerordentlichen zoologischen Reichtum des Messina-Meeres als nicht übertrieben erscheinen läßt, sind die Stimmungsaktien bedeutend wieder gestiegen, und ich fange an, mit den lange vernachlässigten zootomischen Studiengedanken mich wieder zu befreunden. Freilich werden in nächster Zeit noch Momente genug kommen, wo die engen, spanischen Stiefeln der Logik recht drücken werden und die süße Erinnerung an das wilde, phantasievolle, wandernde Malerleben das Stillsitzen hinter dem Mikroskop nicht eben sehr angenehm machen wird; ist doch auch die Differenz zwischen beiden Zuständen, dem reichen, schaffenden, bunten Phantasieleben, wo man im heitern Reich der Farben und Gestalten selbsttätig im freiesten Schaffen auftritt, und dem nüchternen, kalten, anatomischen Verstandesstreben, das immer eher zur Negation und zur skeptischen Zersetzung führt und nie von Haus aus begreifen können, - zu groß, um nicht in dem raschen Wechsel und grellen Kontrast, wie ich jetzt beide durchlebe, aufs tiefste empfunden zu werden. Trotzdem habe ich A. vor seiner Abreise feierlichst versprechen müssen, niemals Sonntags zu arbeiten, sondern nur zu zeichnen und zu aquarellieren; ich werde es aber wohl lieber jetzt ganz lassen, sonst wiederholt sich der Konflikt allwöchentlich von neuem.

Das neue Skizzenbuch, das ich für die sizilische Reise mitgenommen hatte (die andern sind schon in Neapel und auf den Kampanischen Inseln gefüllt), ist glücklich noch am letzten Tage in Taormina ganz gefüllt worden, und außerdem habe ich zehn große Aquarellstudien gemacht, von denen drei sehr gelungen, fünf gut und zwei ziemlich verunglückt sind. Die Maler, denen ich sie in Palermo zeigte, haben mich sehr ermuntert, mich ja weiter auszubilden und besonders Öl zu malen, was ich auch gleich nach der Zurückkunft anfangen werde. Was mir besonders fehlt, ist Geschick in der Technik, welche aber auch in Aquarell viel schwieriger als in Öl ist, ferner tadelten die Maler, und besonders A., der ein sehr feiner Kunstkritiker ist, die zu dunkeln und oft zu gewaltsamen Farben. Dagegen wurde die Komposition und die Anlage der Landschaft im ganzen ziemlich gelobt, und besonders fanden sie darin eine eigentümliche Hinneigung zum Wilden und Großartigen. Daher sind mir denn auch die Felsen und die Ruinen (z. B. die Tempel von Girgenti) am besten gelungen. Mag ich nun späterhin viel oder wenig Gelegenheit haben, mein Landschaftertalent weiter auszubilden, jedenfalls soll es in allen Mußestunden und auf allen Ferienreisen mir eine Quelle des reichsten, bleibenden Naturgenusses sein, wie mir denn auch die von dieser Reise mitgebrachten Stoffe lange Zeit reiche Motive in Masse liefern werden. Wenn ich hier in Messina noch einiges zeichnen sollte, so werden es besonders Vordergrundsstudien (Bäume, Agaven, Kaktus usw.) sein, da sonst grade keine besonders malerischen Partien in der im allgemeinen immer sehr schönen Gegend zu sein scheinen. Doch später darüber mehr - heut einiges von den ersten Tagen meines Hierseins, in denen vieles zusammenkam, um meine Stimmung sehr hinunterzudrücken.

Das Schmerzlichste war natürlich die Trennung von A., an den ich mich in den 4 Monaten, in denen wir (ein paar Tage mehr auf Capri ausgenommen) fast ununterbrochen Tag und Nacht beisammen waren, Freud und Leid teilten, so sehr gewöhnt hatte, daß ich mir nach seiner Abreise fast nur halb vorkam. Der Verkehr mit meinem jetzigen Stubennachbar, dem hiesigen jungen, deutschen Arzt Dr. Edmund von Bartels als Altona, ist dafür nur ein sehr dürtiger Ersatz, zumal ich ihn grade auf halber Genesung von einer längeren schmerzhaften Krankheit angetroffen habe, er sehr hypochondrisch und aus mancherlei Ursachen mißgestimmt ist und von mir nicht nur aufheiternden Verkehr und Umgang, sondern auch ärztliche Behandlung und Heilung hofft. Ich suche mich denn auch, so gut ich eben kann, zu akkomodieren; doch könnt Ihr wohl denken, daß ich grade für Behandlung solcher Leute nicht sehr geeignet bin. B. ist im übrigen sehr freundlich gegen mich. Er hat mir namentlich bei der ersten Einrichtung im Hotel mancherlei unangenehme Schwierigkeiten überwinden helfen; ich fand hier die Verhältnisse bedeutend anders, als ich erwartet hatte und als sie mir aus früheren Schilderungen bekannt waren. Das frühere treffliche deutsche "Hotel du Nord", in dem Gegenbaur und die andern Freunde ebenso vortrefflich als wohlfeil gewohnt haben, ist nämlich unter den Händen des jungen Herrn Müller (Neffen der alten Frl. Caroline) in ein nobles "Victoriahotel ersten Ranges" umgeschaffen worden, und die Preise sind demgemäß um mehr als das Doppelte gestiegen. Nach vielen vergeblichen Unterhandlungen, die mir die ersten Tage sehr unangenehm machten, habe ich mir endlich dadurch geholfen, daß ich in ein kleines, niedriges Dachstübchen im IV. Stock heraufgezogen bin, wo ich wenigstens nur 3 Tari (10 Silbergroschen) täglich zahle, während mein Vorgänger im vorigen Jahr, Prof. Caro, für ein schönes Zimmer im ersten Stock das Doppelte zahlen mußte. Auch esse ich nicht wie jene Table d´hote zu 8 Tari, sondern sehr einfach mit Bartels und dem französischen Konsulatssekretär auf des ersteren Zimmer, zu 4 Tari. Dazu kommen noch 2 Tari für das Frühstück, so daß ich täglich für 9 Tari (einen Taler grade) eben notdürftig leben kann. Hoffentlich ist Papa, der zu fürchten scheint, daß ich zu viel Börsenebbe verursache, mit dieser möglichsten Ökonomie zufrieden.

In meinem Zimmerchen, das bei der bedeutenden Höhe, unmittelbar am Hafen gelegen, die herrlichste Aussicht über diesen und die ganze Meerenge weithin auf die Kalabrische Küste hat, fühle ich mich übrigens ganz behaglich, wenn nur das eine kleine Fenster ein bißchen höher wäre. Doch hoffe ich, daß das Licht zum Mikroskopieren ausreichen wird, was sich in den nächsten Wochen zeigen wird. Im nächsten Brief Näheres hierüber, wie über meine ganze Einrichtung. Heut nur noch herzlichsten Gruß an Euch Lieben alle . . .


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Diese Seite wurde erstellt am 3. August 1999