Italienfahrt - Ernst Haeckel

16. 10. 1859 abends

Brief Nr.46

Das erste heut abend nach meiner glücklichen Zurückkunft hierher soll ein Gruß an Dich, bester Schatz, Euch, liebste Eltern, Dich, lieber Bruder und Euch Lieben und Freunde alle sein und herzlichster Dank für Eure drei lieben Briefe, die mich bei meiner Ankunft freudigst überraschten. Ihr könnt Euch denken, wie ich mich nach fünfwöchentlichem Entbehren jeder Nachricht von Euch über diese Briefe gefreut habe, da Ihr Euch wohl ebensosehr nach Nachricht von mir gesehnt haben werdet. Das nähere Eingehen auf Eure lieben Zeilen und die Beantwortung im nächsten Brief. Heute nur einige Notizen über unsere nun glücklich vollendete Reise durch Sizilien, soweit die große Müdigkeit heute abend erlaubt. Morgen früh soll Allmers den Brief gleich bis Civita vecchia mitnehmen, damit er rascher expediert wird.

Im ganzen hat die Reise durch Sizilien, besonders das Innere, das wir uns viel wilder, schöner und romantischer dachten, nicht ganz unsere Erwartungen erfüllt. Die beiden Glanzpunkte sind Palermo und die Ätna, nächstdem Syrakus und Taormina. Dagegen ist das Innere und die Südküste im ganzen langweilig, sehr öde und traurig. Der einzige Umstand, daß auf der ganzen Insel eigentlich kein zusammenhängender Wald existiert, und daß wir allein in dem mittlieren Ätnagürtel eine Andeutung eines Waldes fanden, wird Euch schon viele Illusionen über den wildromantischen Charakter Siziliens zerstören, die wir auch hegten. Das Land ist überaus bergig, aber mehr eine gleichförmige, langweilige Hügelmasse, als eine Reihe charaktervoller Bergzüge, mit Ausnahme natürlich des herrlichen Ätna und der Umgebung Palermos. Land und Volk, Stadt und Dorf, Menschen und Vieh, Flora und Fauna hatten wir uns in dem berühmten Sizilien ungleich fremdartiger und charaktervoller vorgestellt und sind in dieser Beziehung sehr enttäuscht. Die glücklichen herrlichen kampanischen Inselns Capri und Ischia haben viel mehr Charakteristisches aufzuweisen und sind eigentlich viel fremdartiger und südlicher als das ganze Sizilien. Die Bauart der Häuser, der Charakter der Städte, die Tracht, Sitte und Physiognomie der Bewohner, die Flora und Fauna, die Formen der Felsen und Gebirge fanden wir in Capri und Ischia nicht nur charaktervoller und fremdartiger, südlicher, sondern auch wirklich schöner und interessanter als hier in Sizilien. Möglich allerdings, daß wur durch jene überaus herrlichen Inseln schon zu sehr verwöhnt sind, und daß die Masse des schon vorher genossenen und gesehenen Schönen und Großen fast zu überwältigend war, um jetzt von Sizilien einen ganz reinen Eindruck zu haben. Doch werdet Ihr nach Anblick unserer verschiedenen Skizzenbücher Euch wohl auch zugunsten der herrlichen Umgebung Neapels entscheiden. Capri bleibt nun ein für allemal mein italisches Paradies, doch war immerhin diese fünfwöchentliche Reise durch Sizilien höchst interessant und lehrreich und möchte ich sie keineswegs in meinen Reiseerinnerungen missen. Nur war das Interesse mehr ein historisches, antiquarisches und ethnographisches, als ein äthetisches, naturwissenschaftliches und landschaftliches.

Das Volk im ganzen hat uns viel besser als die Neapolitaner gefallen. Doch steht auch der Sizilianer, obwohl viel besser, noch auf einer sehr niedrigen Stufe, und beim Bekanntwerden mit diesem Volk hat sich mir mehr und mehr der Gedanke aufgedrängt, wie tief diese unteritalische Menschenabart unter dem Vieh steht, besonders unter den Maultieren, diesen aller Tugend vollen, edlen, treuen und geduldigen Tieren, die zum Lohn für ihre unermüdliche Ausdauer, für ihre vorsichtige Sorgfalt, für ihre treuen Dienste, von diesem unbarmherzigen, gemütlosen Menschenvieh in einer so empörenden, grausamen und niederträchtigen Weise mißhandelt wird, daß dieser Umstand allein - (falls man nämlich nicht den Mailtieren, wie allen anderen Tieren, eine Fortdauer ihrer Seele nach dem Tode und eine Vergeltung ihrer Leiden durch eine jenseitige, bessere Existenz zugesteht) - den Glauben an eine gerechte Vorsehung wankend machen muß. Übrigens sind auch die Sizilianer, wenn sie gleich lange nicht so verworfen, so aller Tugend und Ehre bar, wie die gänzlich viehischen Neapolitaner sind, immerhin so elendes Pack, daß ein tiefinnerliches, deutsches Gemüt sich nie mit ihrem rein äußerlichen Dichten und Trachten versöhnen kann. Hat überhaupt diese ganze Reise durch Italien viele reine und edle Bestrebungen in uns angeregt und ausgebildet, so ist es vor allem die innige, hohe Liebe zu unserem unvergleichlichen deutschen Vaterlande, die dadurch einen Schwung und eine Festigkeit, eine stolze Sicherheit und nationales Selbstbewußtsein erhalten hat, wie es im Vaterland selbst nie gekommen wäre. Auch hatīs allerorten der italische und sizilische Boden hören müssen, in der herrlichen Umgebung Neapels wie in den gepriesenen Gefilden Palermos, in den Latomien von Syrakus wie auf dem Gipfel des Ätna: - Deutschland, Deutschland über alles, über alles auf der Welt! - Ich bin ein Deutscher, will ein Deutscher sein! - Freilich haben wir keine Lorbeeren und Myrten, keine Palmen und Pinien, keine Opuntien und Agaven auf sonnverbrannter Höhe, keinen ewig blauen Himmel, kein unsäglich dunkelblaues Meer. Wir haben aber in unserm Deutschland den unersetzlich lieben und grünen Wald, und wir haben das frische, schwellende Moos darin und die sprudelnden und rieselnden Quellen und die singenden und zwitschernden Vögel - und wir haben den unvergleichlich herrlichen Wechsel der Jahreszeiten, den lieblichen Frühling, den lustigen Sommer, den sinnigen Herbst und den gemütlichen Winter, - was allels dem traurigen Süden fehlt. Mir wäre dies beständige Einerlei des ewigen Sommers, noch dazu eines so trocknen, dürren, durstigen, saft- und kraftlosen, trotz all seines blendenden Sonnenuntergangs und Farbenschwalls, unerträglich. -

Doch wohin verliere ich mich! Statt von Sizilien, schwärme ich von Deutschland! Freilich darf ichīs heute wohl, da ich heut lieber als je dahin schnurstracks zurückkehrte. Schließt doch heute der Zyklus der unendlich reichen und belehrenden, anregenden und belebenden vier Monate, die ich in der Gesellschaft des prächtigen Allmers zubrachte, und es beginnt der traurige, einsame Winter mit der strengen, nächternen Arbeit des Naturforschers, die nach dem reichen, phantasievollen Künstlerleben gewiß recht schlecht schmecken wird, besonders anfangs, ehe die Maschine wieder recht im Gange ist. Wenn nur erst die nächsten 3-4 Wochen vergangen sind, vor denen ich mich ganz besonders fürchte. Der übrige Winter wird dann schon rasch genug vorübergehen. Rückt mir jna doch dann der liebe Frühling mit der köstlichen Zeit des Widersehens immer näher. - . . .


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Diese Seite wurde erstellt am 3. August 1999